Lublin (Juli/August 2021)
Posted by Antje Kröger Photographie on Aug 13 2021, in Mensch, Welt
Los. Fahren.
An. Kommen.
Beide Zustände elementar für das Reisen.
In diesen Zeiten gesellt sich übergroße Vorfreude dazu.
Möglichkeit hatte sich seit einer bleiernen Ewigkeit nicht verändert.
Manchmal war ich kurz an meine Kindertage vor 1989 erinnert. „Frei“ fühlte ich dennoch fast immer. Alles hängt von der Perspektive und dem Wissen (darum) ab.
Spontane Entscheidung für Ostpolen, weil es wieder möglich war. So nah wie möglich an die geliebte Ukraine, weil nach dort eben noch nicht. (Dachte ich!) Lublin-Majdanek, auch ein Grund. Nicht so ganz spontan hatten sich die Deutschen im letzten Jahrhundert und Jahrtausend überlegt, hier ein Konzentrations- und Vernichtungslager zu errichten.
Mein erster Tag. Hier. Ich sitze am offenen Fenster der Herberge. Das erste Mal ein Einzelzimmer. Sicherheit. Vermeintliche. Gestern am tristen Gleis des Bahnhofes in Rzepin fragte mich ein Pole (in Danzig geboren, seit 30 Jahren schon in Hamburg lebend, und nun auf dem Weg in die alte und immer noch Heimat), ob ich keine Angst hätte, so alleine zu reisen und auch noch zu fotografieren. Schnell wollte ich hinausschreien: Nie habe ich so wenig Angst wie auf meinen Reisen. Und gerade, gerade entfliehe ich diesem Thema so oder so! Aber ich wußte natürlich, dass das nicht die Antwort für ihn war, sondern für mich. Deshalb behielt ich sie auch für mich und schüttelte einfach den Kopf: Nö, ich hab keine Angst. Dann schnackten (seine Begriffswahl!) wir über Heimat. Er sagte (s)einen wirklich wichtigen Satz: Niemand sollte seine Heimat verlassen müssen. Ich erzählte von meinen Flüchtlingsgroßeltern und dachte an eine Zahl, die ich gestern im Radio gehört hatte. Merken konnte ich sie mir so gut, weil sie der Einwohnerzahl Deutschlands entspricht, fast. 82 Millionen Menschen sind derzeit weltweit auf der Flucht! Vor Verfolgung; Krieg, Gewalt, Hunger, Klimakatastrophen sind weitere Gründe. Erinnern wir uns an den Satz des alten Mannes auf dem Gleis im polnischen Nichts, dieser Bahnhof glänzte nämlich durch Tristesse. KEIN Mensch sollte seine Heimat verlassen müssen. 82 Millionen aber MÜSSEN. Ich hingegen habe meine Heimat vor fast 25 Jahren freiwillig verlassen, weil sie mir aus Gründen zu eng wurde. Der Mann bat mich, mit ihm den Speisewagen des ankommenden Zuges zu kapern. Ich jedoch hatte mehr Lust auf meinen reservierten Platz, auf Kopfhörer in den Ohren und den schweifenden Blick aus dem Fenster.
Der Wind raschelt durch meinen Baum vor dem Fenster meiner Unterkunft. Wie zu Hause. Fliegen, nervige Fliegen. Die haben mich auch schon zu Hause in meiner Küche genervt. Ich erinnere mich an die Ferienkindheit bei Oma und Opa während der Großen Ferien. Acht Wochen Sommer. Bei Oma in der Küche hing immer diese Klebespirale, an der es manchmal noch recht laut und lebendig summte. Und den Rest der nervigen Schmeißfliegen konnte die schöne Großmama mit der bloßen Hand fangen. Diese Gabe hat sie mir leider nicht vererbt. So wedele ich nur immer wild umher, um die Viecher zu vertreiben. So eine Spirale aber hängt nun von Zeit zu Zeit auch in meiner Küche. Nachteil, mein Dutt bleibt manchmal drin hängen und verschmilzt mit dem Klebstoff und dem toten Getier zu einem ekelhaften Geflecht.
Lublin kenne ich bisher nur aus der Dunkelheit. Aber fühlen kann ich es schon.
Ein halbes Dutzend Mal reiste und bereiste ich Polen bisher, davon ausgenommen diverse Tagesausflüge auf den Polnischen Wochenmarkt und Stettin. Das war bereits in Kindertagen und ich habe kaum Erinnerungen daran. Zum ersten Mal fuhr ich während meiner aktuellen Polenreise mit der Polnischen Eisenbahn. Reservierungspflichtige Züge. Wie fast überall auf der Welt (Hallo Deutsche Bahn!). Mein Wagen war der mit der Nummer 13. Bingo. Mein Platz allerdings bereits befraut. Zwei Freundinnen wollten zusammensitzend bis nach Warschau fahren. Für mich kein Problem, denn so wanderte ich im Wagen ein wenig herum und durfte verschiedene Sitze ausprobieren. Die Fülle an Menschen im Gefährt war nicht immer gleich. Von Poznań nach Warschau war wohl jeder Platz aufgefüllt. Alle anderen Strecken waren solide ausgebucht. Meine Zugstrecke: Leipzig-Berlin // Berlin-Rzepin // Rzepin-Lublin. Als der polnische IC Warschau erreichte, lief auf meinen Kopfhörern „Bello E Impossibile“, und ich konnte nicht anders als lächeln, zu gerne wäre ich ausgestiegen. Wie vorher auch schon Berlin, Warschau glänzte in der Sommersonne äußerst attraktiv. Mir blieb nur eine Vorfreude und die Erinnerung an wunderbare Momente.
Die Fahrt mit dem Zug zog sich wie alter Kaugummi. Fast zwölf Stunden. Weil ich weder Lust hatte zu lesen, noch auf mein Handy zu starren, begleiteten mich akustisch die Merkeljahre. Ab und zu nickte ich kurz ein. Ansonsten ließ ich das Polenland an mir vorüberziehen: Autos, Störche, Felder mit runden Heuballen, Mähdrescher, Vogelscheuchen, leere Bahnhöfe, viereckige Häuser. Ich kann mir keinen Reim drauf machen, aber fast alle Behausungen in Polen sind irgendwie viereckig, klotzig. Auch ich wohne hier in einem Viereck, einem gelben. Einem modernen. Außerdem gibt es die älteren Vierecke, die sind meist hoch und klobig und nennen sich Plattenbau(ten). Aber mich irritieren diese ganzen viereckigen, „modernen“ Neubauten. Nichts spitzes oder rundes. Alles oben flach. Vielfalt liegt nur in der Wahl der Stockwerke.
Mit dem Umstieg vom deutschen ICE in Berlin erst in einen polnischen EC, dann in einen polnischen IC veränderte sich Diverses. Die Frauen: Sie mutierten von funktionalen Kleidungswesen zu eleganten Damen. Nice. Mehr Kleider, mehr Haut, mehr Schminke, mehr Spiegel, mehr buntlange Fingernägel und viel viel mehr Duft. Die Masken: Äh. Ich war irritiert. Usus, vor jeder Reise schaut mensch sich die Coronazahlen des Landes und vor allem die Bestimmungen an. Hatte ich getan. Strenge – das wichtigste Wort, dass ich mir merken sollte. Aber in den Zügen trugen die Reisenden entweder keine Maske oder ließen sie nur an einem Gummi übers Ohr übers Gesicht flattern. Die Schaffner hingegen waren ffp2-Masken-bekleidet. Und ich total durcheinander. Hatte ich mir doch Strenge ins Gehirn gemeisselt. Mittlerweile bin ich laissez-fairer. Das Wort streng flirrt nicht mehr ständig vor meinem inneren Auge. Die Bücher: Mann, Frau, Kind & Diverses liest im polnischen Zug. Und zwar Bücher. Und zwar analog, die aus Papier. Ich bin ja schon vor Jahren auf die digitale Lesevariante umgestiegen (ich höre gerade den Spott meines Liebsten, dessen Noch-Zu-Lesen-Buchtürme regelmäßig zum Einsturz verdammt sind).
Schon dunkel war es in Lublin, als der Zug einfuhr. Auch der Bahnhof wenig pompös. Aus Leipzig bin ich aber auch andere Kaliber gewohnt. Ich schleppte mich bepackt an den Ausgang und startete den Handy-Navigator, zum Glück liegt Lublin in Polen und Polen in Europa. Zwei Kilometer bis zu meinem Herbergsklotz. Ich lief, mein Koffer rollte die kaputten Gehwege entlang, neben mir. Nur noch 500 Meter bis zum Ziel, doch plötzlich war es dunkel und total unübersichtlich. Ich fragte einen jungen Kerl mit Hund, aber der wußte nichts. Aus dem Nichts erschien eine mittelalte, beutelbepackte Frau und fragte, wo ich hinwolle. Theresa. Sie lotste mich. Und erzählte. Ihr Sohn studierte in Karl-Marx-Stadt. Wie heißt das jetzt? Ah ja Chemnitz. Bauingenieurwesen. Ihr Mutter kam nach dem Krieg, als die Grenzen verschoben wurden, von Lwiw nach Lublin. Lwiw nur 90 Kilometer entfernt von hier, aber für mich momentan nicht bereisbar (immer noch: dachte ich!). Der Vater von Theresa kam aus Łódź. Beide leben nicht mehr. Aber Lublin lebt. 700 Jahre wurde die Stadt 2017 alt/jung. Und meine nette Begleitdame erzählte mir, dass sie gerade auf dem Weg von ihrem kleinen Garten nach Hause sei, mit Gurken im Gepäck. Als wir ankamen, in meinem temporären Zuhause, gab sie mir ihre Telefonnummer und lud mich zum Essen ein. Ein schönes Ankommen. Ein herzliches Ankommen. Vorfreude auf die Helligkeit des nächsten Morgens.
Mein erster Tag in Lublin war bestimmt vom Gehen, von der heißen Sonne und vom geschichtlichen Entdeckergeist. Ohne viele Informationen über Stadt und Leute, immer der Nase nach und vor allem den Menschen. Fast fühlte ich mich erinnert an Genua in Italien, ein Jahr zuvor. Auch dort brannte die Sonne auf meiner Haut und Eis wurde von Jung und Alt an jeder Ecke verschleckt (aus verschlungen und geschleckt). So viele Eisbuden hatte ich in Ostpolen nicht verortet. Aber erfreuen konnte ich mich an ihrer Anwesenheit, durch sie fühlt sich doch ein Sonnentag erst richtig süß an. Körperlich spüren durfte ich den Sommer in der Innenstadt Lublins, dort, wo Kinder und Hunde sich im kühlen Nass suhlten. Ich war neidisch. So richtig! Denn: Sommer und Bade-Wasser gehören für mich unweigerlich zusammen. Nun schaute ich vom Beckenrand zu, aber auch das entzückt. Denn die Kinder und Hunde Lublins waren wasserwild. Da ging es schön ab. Nicht wie in Deutschland, wo so ein wenig mit den Füßen geplantscht wird. Nö. Voll rein. Zuschauende saßen drumherum (am liebsten irgendwo unter einem Baum im Schatten) und beobachteten das Treiben – wie ich – sehr vergnügt. Von meinem Platz am Wasser fiel mir dann auch dieses ellipsenförmige Ding auf. Als ich später davor stand, verstand ich nicht ganz. Das Portal. Eine Tafel gab Aufschluss: Kontakt in Realzeit. Jetzt verstand ich, warum die Frau vor mir so wild winkte. Wir standen vor einer Kamera und sahen auf der Mattscheibe Menschen aus Vilnius, der Hauptstadt Litauens. Witzig. Nur die Menschen im Fernsehen reagierten nicht, zumindest nicht, als ich davor stand.
Apropos Litauen. Polen und Litauen haben im Laufe ihrer Geschichte enge Beziehungen unterhalten. Dies war besonders im Mittelalter der Fall. Es gab viele Konflikte zwischen den beiden Ländern. Doch trotz ihrer Differenzen gelang es Polen und Litauern, sich zu einigen und eine mächtige Union zu schaffen: Polen-Litauen, die Rzeczpospolita. (Quelle: https://unser-mitteleuropa.com/die-union-von-lublin-oder-die-geburt-polen-litauens/) Diese Beziehung begegnete mir häufig im Stadtbild, jedes Mal, wenn die Geschichte der Stadt wichtig wurde. Und das passierte richtig oft. Geschichtsunterricht live. So richtig gut. Übrigens noch ein spannender Fakt. Die Stadt gehörte während ihrer Geschichte auch schon zu Österreich, für ein paar Tage war sie 1918 auch Hauptstadt und bevor im August 1980 die Arbeiter*innen der Werft in Danzig in den Streik traten und damit die Gründung der Gewerkschaft Solidarność einläuteten, legten die Arbeiter und Arbeiterinnen Lublins bereits im Juli 1980 ihre Arbeit nieder und kritisierten damit die Politik des Staates. Kritisch mit ihrer Regierung sind die Polen im Übrigen auch heute noch. Als ich in der Küche meiner Herberge einen Abiturienten aus Łódź treffe, frage ich ihn unverzüglich, warum die Polen einfach nicht den vorgeschriebenen Mund-Nase-Schutz, wie es im deutschen Beamtensprech heißt, trügen, im öffentlichen Verkehr, in Innenräumen. Der Junge erzählt mir, dass die Fallzahlen derzeit wirklich sehr niedrig seien und die polnischen Menschen wirklich noch nie sehr regierungsfreundlich waren (vor allem Männer, der Frau in Osteuropa wurde/wird eine andere Rolle zugeordnet). Das entsprach dem, was ich sah (mit subjektiven Blick). Masken wurden getragen von den Alten, mehr von Frauen als von Männern, von Touristen und von jungen, höher gebildeten Menschen/Student*innen.
Und noch ein paar Funfakten: Das Stadtwappen zeigt einen auf Hinterbeinen stehenden Ziegenbock mit einem Weinstock auf grünem und rotem Grund. Lublin wird auch die „Ziegenstadt“ genannt. Von der jüdischen Bevölkerung bekam die Stadt erst den Beinamen „Mutter der Städte“ und später „Polnisches Jerusalem“. Und ungelogen: Gestern, als ich während des abendlichen Sonnenunterganges durch die Lubliner Altstadt flanierte, dachte ich sofort an meine Spaziergänge und Erlebnisse in der Altstadt von Jerusalem. Ver-rückt.
Die alte und die jüngere Geschichte der Stadt sind so umfangreich, dass ich sie nicht nachzuerzählen vermag. Erst spielte der Adel eine große Rolle, dann verschiedene Könige und Verwüstungen, die Polnisch-Litauische Union erwähnte ich schon, die Polnischen Teilungen; Zugehörigkeit zu Österreich, Zugehörigkeit zum Russischen Kaiserreich, die Polnische Republik, Deutsche Besatzung, Volksrepublik Polen bis 1989… Und die jüdische Bevölkerung. Lublin war lang Jüdisches Zentrum. Es gab Zeiten, da bestanden Lublins Einwohner mindestens zur Hälfte aus Juden (1865 waren sogar 59 Prozent der Einwohner Juden).
1792 zog Jaakow Jizchak Horowitz („Seher“ oder „Weiser von Lublin“) in die Stadt. Er war Vorantreiber des Chassidismus, wörtlich übersetzt bedeutet dies Frömmigkeit. Der Chassidismus ist eine jüdische religiös-mystische Strömung und Teil des ultraorthodoxen Judentums. Viele der Vorfahren der heutigen ultraorthodoxen Juden in New York, Antwerpen, Jerusalem stammen aus Lublin oder den ehemaligen Städtlein drumherum. Nachdem Horowitz 1815 starb wurde sein Grab auf dem Judenfriedhof zum Wallfahrtsort für Juden aus aller Welt. Ich, leider, stand vor verschlossener Friedhofs-Türe. Wer den alten Judenfriedhof anschauen mag, muss sich den Schlüssel zum Öffnen der dicken Kette abholen in einem Hotel, ein kleiner Zettel verriet mir dieses Geheimnis. Es regnete zu diesem Zeitpunkt und so zog ich ohne einen Besuch weiter.
Das ehemalige jüdische Leben ist in der gesamtem historischen Altstadt und darüber hinaus sicht- und spürbar. Übrigens, die Altstadt Lublins ist die zweitgrößte in Polen und so wundervoll. Jeden Tag meines Aufenthaltes stromerte ich durch ihre Straßen und entdeckte Neues. Meist war ich auf der Suche nach jüdischer Symbolik. Dass diese, auch für mich, wahrnehmbar ist, dafür sorgte und sorgt seit 1998 das Brama Grodzka – Teatr NN. Leider habe ich nicht geschafft, die Ausstellungen und Archive im Grodzka-Tor zu besuchen. Die kulturelle Institution hat so viel Material über das ehemalige jüdische Leben in der Stadt und auch der Ausrottung dieses gesammelt, dass es wohl Wochen dauern würde, sich alles gewissenhaft anzuschauen. Ich konzentrierte mich auf die Fotoausstellungen und Zeichen auf der Straße. Da war beispielsweise eine Straßenlaterne die auch tagsüber leuchtete. Später erfuhr ich, dass sie ununterbrochen seit 2004 ihr Licht spendet. Sie soll die ehemalige jüdische Präsenz verdeutlichen. Sie steht in der Nähe des Grodzka-Tors. Das Tor übrigens, das lange die Stadteile der jüdischen und der christlichen Menschen trennte. Wenn mensch es aus der Richtung der historischen Altstadt durchschreitet, führt der Weg direkt zum Schloss Lublin. Unterhalb des Schlosses befand sich der ehemalige jüdische Stadtteil mit meist ärmlichen Behausungen. Heute befindet sich dort eine große Straße, ein Busbahnhof und ein „Einkaufscenter“.
Apropos Autos. Dieses Osteuropa. Dieses Osteuropa mit seinen Unmengen an Autos. Sehr viele alte Autos (also nicht alte sozialistische, das wäre schön, sondern alte Westautos), aber tatsächlich auch neue, pompöse. Wenn ich irgendwo sass zum Essen, oft dieses Bild: Mensch nimmt im Restaurant Platz, meist in Paar-Konstellation, auf den Tisch werden Autoschlüssel und Handy gelegt. Das Auto. Statussymbol. Und bequemlich Ding. An das Ziel fährt der Lublinmensch immer ganz nah heran. Natürlich. Neulich spotteten wir noch: Das Auto meines Liebsten hatte ’ne Grätsche gemacht (wie mensch in Sachsen zu sagen pflegt). Wer kauft denn so ein kaputtes Auto, dessen Reparaturkosten in keinem Verhältnis stehen? Polnische Autohändler natürlich. Schon gruselig, in welchen Kategorien wir so denken! Aber da scheint schon auch was dran zu sein. Ich war schnell Auto-genervt. Selbst bewegte ich mich zu Fuß oder mit dem Bus fort. Lublin hat fast 340 000 Einwohner. Und der öffentliche Verkehr besteht nur aus Bussen. Auch wieder gruselig. Wenn ich einen der Stadtbusse nahm, war dieser nie voll und mit mir fuhren Kinder, Jugendliche und Alte. Alle anderen nutzten ihr Automobil. Wer macht diesen Menschen irgendwann klar, dass es gut wäre für unseren Planeten auf ihr Gefährt zu verzichten?
Das Konzentrations- und Vernichtungslager Lublin-Majdanek stand am folgenden Tag auf meinem Plan (Majdanek war mir bisher vor allem aus dem gleichnamigen Prozess bekannt. Auf Youtube fand ich eine erschütternde Dokumentation dazu: https://youtu.be/pim27qP4FV4). Schon von meinem Besuch in Auschwitz wußte ich, dass diese Besichtigung hart werden würde. Aber solch einen krassen Magenschlag hatte ich nicht erwartet. Der Reihe nach.
Majdanek ist ein etwas abgelegener Stadtteil von Lublin. Ich stieg in einen Bus. Es war total merkwürdig, an der Scheibe zu kleben, während das Gefährt am ehemaligen KZ in all seiner „prächtigen Präsenz“ vorbei tuckerte. Übrigens, anders als in Auschwitz, brauchte ich keinen Termin. Und wenn ich die Menschen zusammenzähle, die ich dort während des gesamten Tages traf, waren es höchstens 30. Die Massen an Besuchern damals in Auschwitz empfand ich sehr belastend.
Schon am Fenster meines Busses war ich erstaunt ob der Größe des Geländes. Fünf Kilometer mal fünf Kilometer. Mein Schrittzähler zeigte nach dem Besuch von Majdanek 10.000 an. Und die Sonne brannte auf mich ein. Um so länger ich mich auf dem Gelände des ehemaligen KZs befand, um so betrübter wurde ich. Überall waren Krähenvögel. Manchmal traf ich polnische Touristen mit bunten Sommerkleidern und echauffierte mich darüber. Wie blöd. Ich weiß. Aber dieser Ort war so dunkel für mich, ich konnte mir niemals vorstellen, in rot oder gelb über das Gelände zu flanieren. Majdanek war kein reines Vernichtungslager. Dazu fehlte auch ein direkter Gleiszugang. Majdanek war vor allem Arbeits- und Konzentrationslager. Dennoch kamen mehr als genügend Menschen ums Leben, darunter viele Juden, aber auch Polen. Sie wurden gequält, erschossen, sie verhungerten, starben an Seuchen, wurden vergast und im Krematorium verbrannt. Diese (übrig gebliebenen und rekonstruierten) Orte des Verbrechens schaute ich mir an. Im ehemaligen Krematorium konnte ich nur kurz bleiben. Die Wände der Gaskammern leuchteten blau vom Gift.
In vielen der Baracken befinden sich Ausstellungen und/oder Kunstinstallationen. Sehr informativ, leider nur in polnischer, englischer und hebräischer Sprache. Das viele englische Lesen erschöpfte mich zusätzlich. Besonders in ihren Bann zogen mich die zwei Monumente, welche nach der Befreiung des Lagers aufgestellt wurden und eine Installation in einer der Baracken. Sie traf mich tief im Herzen. In der Baracke war es dunkel. Nur viele Glühlampen auf der Erde waren sichtbar. Das Holz, auf dem ich schritt, knarrte. Von hinten las eine männliche (Rabbiner)Stimme etwas vor. Ich war alleine, fühlte mich ganz beklommen, wollte nicht bleiben. Die Dunkelheit kroch weiter und weiter in mich hinein. Ich flüchtete. In die nächste Baracke. Lauter Schuhe. So viele Schuhe. Ich wollte mir ihre Anzahl merken. Habe ich leider nicht, aber es waren zehntausende. Ein heller Schuh stach heraus, mir ins Auge und ins Herz. Ich fragte mich, ob all die anderen ihn auch sahen?
Am Ort des ursprünglichen Lagereingangs wurde ein von dem polnischen Bildhauer und Architekten Wiktor Tołkin entworfenes monumentales Kunstwerk aus Beton und Natursteinen errichtet, das den im Lager geläufigen Begriff ‚Tor zur Hölle‘ versinnbildlicht… Ein rund 20 Meter Durchmesser großes Mausoleum beinhaltet die Asche und sterblichen Überreste ermordeter Menschen aus dem Krematorium und den angrenzenden Erschießungsgräben. (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Konzentrations-_und_Vernichtungslager_Lublin-Majdanek)
Als ich die Treppen des Mausoleums emporstieg, war ich schon ganz erschöpft. Es war für mich die letzte Station meiner Besichtigungstour. Die Sonne strahlte durch die obige Öffnung und warf Schatten auf den Ascheberg. Das sollten wirklich die Überreste von Menschen sein? Ich konnte es mir kaum vorstellen. Vor dem Ascheberg stand ein Gedenkkranz. Auch im Krematorium brannten Kerzen und ein Kranz gedachte der Toten. Von meinem Platz aus konnte ich über das ehemalige Lager, aber auch über Lublin blicken. Schaute ich nach links, machte ich erst die Häuser, die ganz nah ans Lager anschlossen, aus und dann all die Gebäude, die weiter weg standen. Drehte ich meinen Kopf nach rechts, erkannte ich einen riesigen Friedhof. Eine Stein-Mauer trennte ihn von der Gedenkstätte. Der Friedhof von Majdanek. Leider konnte ich nicht direkt hinübergehen. Diese Mauer. Ich musste erst den langen Weg zum Ausgang nehmen, um dann noch eine kurze Stippvisite zu machen. Ich guckte mich kurz um, beschloss dann schnell, dass ich für heute genug hatte vom Tod und Sterben. Ich suchte die Bushaltestelle und ließ mich wieder in die Altstadt bringen. Dort drehten junge Menschen aus verschiedenen Nationen ein Video. Ich setze mich auf eine Bank und schaute zu, bevor ich einem katholischen Abendgottesdienst beiwohnte. Ein trauriger Tag mitten im hohen Sommer. Mitten im Licht.
Antje und die alten Häuser. Oder die alten Häuser und Antje. Von diesen gab es etliche in Lublin. Diese zogen mich magisch an – natürlich. Ich selbst lebe in einem unsanierten Haus, dass mehr als 100 Jahre auf dem Buckel hat. Ich mag die hohen Decken, das knarrende Holz, die Geschichte, die in allen Räumen schlummert. Leider gibt es bei uns in Deutschland immer weniger dieser nicht-sanierten alten Häuser. Grundsätzlich habe ich nichts gegen Sanierung. Aber leider spielt dabei ja immer das Geld, oder besser die Sparsamkeit oder der Geiz oder die Rendite eine Rolle. Und so bleiben oft Charme und Schönheit auf der Strecke. In Lublin aber gibt es so viele Gebäude mit diesem ursprünglichen Charakter, unsaniert natürlich, manchmal auch schon ziemlich zerfallen, heruntergekommen. Überall aber leben Menschen. Das überraschte mich manchmal. In Lublins Altstadt ist es ähnlich wie in der Altstadt Genuas. Die Menschen mit mehr Geld ziehen an den Rand, weg aus dem Zentrum. Im Zentrum lebt die „Armut“ und wandelt der Tourist (Übrigens habe ich nur einmal während einer Woche Aufenthalt deutsche Worte vernommen).
Manchmal, wenn die Tür eines alten Hauses offen stand, luscherte ich in die Hinterhöfe oder Treppenaufgänge hinein. Gelegentlich gab es gar kein Treppengeländer mehr, manchmal waren die Wände voller Graffiti oder/und es roch nach Urin. In einem dieser Treppenaufgänge traf ich den 27-jährigen Pablo. Er schleppte gerade Wasserflaschen hinauf in die Wohnung und erzählte mir mit seinen wenigen englischen Vokabeln, dass das Haus voll besetzt sei mit Mietern. Später sprach ich noch kurz mit Adam (65, dasselbe Haus), der an seinem Fenster im Erdgeschoss sass und seine Abend-Butterstulle schmierte. Wir verständigten uns mit Händen und Füßen. Er lächelte mich an und im Hintergrund konnte ich einen wunderschönen weißen Kachelofen erkennen.
Einen Tag später durfte ich sogar kurz eine Wohnung in meinem Lieblings-Lublin-Haus anschauen. An vielen Tagen schlich ich um dieses besondere Haus herum. Es ähnelte von Außen eher einer Ruine. Über dem Eingang standen hebräische Buchstaben und die Nummer 10 und zwei alte Lampen säumten diesen. Viele Fenster waren mit Holzbrettern vernagelt, an anderen fehlten die Scheiben gänzlich. Erst als ich das erste Mal in den Innenhof trat, sah ich, dass dort noch Menschen leben mussten, denn frische Blumenkästen hingen an den oberen Balustraden.
Einmal traf ich vor dem Haus eine Horde Jungs, die passabel englisch sprechen konnten. Sie erzählten mir, dass die Menschen dort ganz legal wohnten, mit Mietverträgen. Schwer vorstellbar, selbst für mich. Dazu kam, dass dieses Refugium ja nicht nur von mir begutachtet wurde. Eine Menge Menschen mit Fotoapparaten um den Hals waren angezogen von diesem Ort. Verständlich. Aber nur ich traute mich an diesem Tag, zu dieser Stunde hinein und auch hinauf. Manchmal fiel mir das Treppensteigen schwer, so ohne das Geländer. Aber ich schaffte es bis nach ganz oben. Obwohl draußen die Sonne schien, war es sehr dunkel. Irgendwo stand eine Waschmaschine. Ich versuchte zu erhören, wo Menschen wohnen könnten, aber keine Geräusche. Deshalb setzte ich mich vor das Haus. Und welches Glück ich hatte. Eine junge Frau stand mir plötzlich gegenüber. Julia. Julia wohnt seit 27 Jahren in diesem Haus. Sie sei dort geboren, verkündete sie stolz. „Ich wohne in einem Palast.“ Mit ihr Sohn Julian. „Ich möchte hier nie weg!“. Im gesamten Haus leben sechs Menschen. Zwei davon sind ihre Eltern. Aha, sie zeigte auf die Blumenkästen. Schon ihr Großvater lebte in der Nummer zehn, leider kenne ich den Straßennamen nicht. Das muss schon nach dem Krieg gewesen sein, denn alles deutet ja darauf hin, dass hier einmal Juden gelebt haben mußten. Ich fragte Julia, ob sie mir nicht ihre Wohnung zeigen könne. Sie nickte und wir stiegen gemeinsam eine Etage empor. Sie schloss die Tür auf, ich zog wie sie meine Schuhe aus und bekam einen Wohnungsüberblick geboten. Wie schön diese Wohnung war. Die Dielen abgeschliffen, die Wände bunt, überall standen antike Möbel. Ich war verliebt. An den Wänden hingen Fotos und eine Malerei aus Norwegen. Julia lotste mich zum Fenster: „Schau, von hier kann ich direkt aufs Schloss schauen!“ Die schönen Kachelöfen beheizt die 27-jährige jedoch nicht mehr. Ich erzählte Julia, dass ich im Winter sehr viel Kohle in meine Öfen versenke. Sie jedoch verwende elektrische Heizungen. Vielleicht ist der Strom in Polen ja günstiger. Who knows. Ich wäre gerne noch länger geblieben, wollte die gastfreundliche Julia aber auch nicht aufhalten. So verabschiedeten wir uns voneinander. Ich denke gerne daran zurück. An das Haus und die Begegnung. An diesem Abend ging ich weiter Richtung Schloss. Ich lief drumherum. Sah eine Gedenktafel, da, wo einst eine Synagoge stand, ging weiter und landete auf einem kleinen Markt. Dort gönnte ich mir eine Schale voller saftiger, frischer Himbeeren. Der Duft des Marktes, ich habe ihn immer noch in der Nase. Er roch nach Sommergarten.
Der Park der Leute. Unweit meiner Herberge befindet sich dieses Idyll. Als ich Theresa an meinem Anreise-Abend nach ihrem liebsten Ort in Lublin fragte, antwortete sie mir genau dies: „Park Ludowy“. Ich traf dort bei meinem Besuch an einem Sonntag den 45-jährigen Slawomir. Er sportelte. Sein Handy stand dabei auf einem Stativ und zeichnete alles auf. Sporteln ist wohl zu wenig für das, was der Muskelprotz dort veranstalte. Er kraftsportelte. Ich war mir unsicher, ob ich ihn ansprechen sollte, tat es dann doch, die Neugier war einfach zu groß. Was soll ich sagen? So ein netter Kerl. Und so offen. Er offenbarte mir, dass er erst seit sechs Jahren Sport mache. Sportlich. Nach sechs Jahren dieser Body. Slawomir ist Übersetzer (ukrainisch, italienisch und russisch), er liebt Rom, interessiert sich für die polnische Geschichte (nicht zu übersehen der erste polnische König tätowiert auf seinem Rücken) und er hasst Nazis.
Ich erzählte ihm von meiner jüdischen Spurensuche in Polen, in der Ukraine, in Russland, Antwerpen, Jerusalem usw. Er sagte einen wichtigen Satz zu mir: „Du musst dich hier in Lublin und in ganz Polen auch für die polnische Geschichte interessieren, nicht nur für die jüdische!“ Wie recht er doch hatte. Mit diesem Gedanken im Kopf marschierte ich noch ein wenig durch den Park, von dem Slawomir erzählte, dass es ihn so erst seit einem Jahr gäbe. Vorher war dieser Platz ziemlich heruntergekommen und gefährlich. Jetzt aber war dies eine Begegnungsstätte für die Menschen der Stadt. Sehr liebevoll hergerichtet. Es gibt unzählige verschiedene Sitzmöglichkeiten, eine BMX-Bahn, Springbrunnen, diverse Brücken, viele Toiletten und Spiel- und Sportplätze, Musikgeräte, Büchertausch-Schränke und so viel mehr. Und an diesem Sonntag natürlich auch hunderte Erwachsene und Kinder, die ihn als Erholungsraum nutzten.
Ein weiteres Ziel heute war der Bahnhof. Ich hatte ihn ja nur in den dunklen Abendstunden betreten bisher. Wie sehr häufig in Osteuropa liegt dieser nicht sehr zentral. Immerhin konnte ich dort einen Kaffee trinken, viel mehr Spannendes konnte ich nicht entdecken. Aber die Gegend rundherum war für mein fotografische Auge attraktiv. Ich begegnete an diesem Tag so einigen Menschen mit T-Shirts oder anderen Kleidungsstücken in den polnischen Nationalfarben. Um 17 Uhr – am Abend dieses 1. Augusts – lüftete sich für mich das Geheimnis. Ich sass schon wieder in einem Café, da ertönte eine Sirene und alle Menschen, die vorher durch die Altstadt flanierten, blieben schlagartig stehen. Für eine Minute. Woran gedachten diese Menschen? Am 1. August 1944 begann in Warschau der Aufstand der Polnischen Heimatarmee gegen die deutschen Besatzer. Nach 63 Tagen erlagen die Polen den Deutschen, 250.000 wurden getötet. Da war sie. Ganz live und in Farbe die Polnische Geschichte. Am späteren Abend fand zu diesem Anlass auch noch ein Konzert statt. Masken und Abstände spielten dabei natürlich keine Rolle. Auf der Bühne sass eine Armistenkapelle. Ab und zu kamen Sänger*innen dazu. Und Sprecher. Es wurde viel gesprochen. In theatralischen Worten. Dazu lief eine Foto-Show auf der Leinwand. Während der Musik tanzten die Kinder. Und alle Erwachsenen konnten die Lieder mitsingen. Ein Tag der Menschen heute in Lublin.
Meinen letzten Tag in Lublin wollte ich gemächlich bestreiten. Nur ein Programmpunkt für den Tag. Ein Friedhof. Zweimal bin ich ja schon dran vorbeigekommen, nun wollte ich einem noch explizit meine Aufmerksamkeit schenken. Cmentarz Lipowa. Von meiner Herberge konnte ich ihn zu Fuß erreichen. Aber ich musste früh los, denn schon um 14 Uhr sollte er wieder schließen. Manchmal habe ich diese unbestimmte Angst, man würde mich auf einem Friedhof einschließen. Dieser Angst wollte ich kein Futter geben. Das Schönste an meinem Friedhofsbesuch war ein plötzlicher Sturzregen. Mit einem anderen Besucher stand ich lange unter einem großen Baum, dessen Dach uns vor der Nässe schützte. Aber auch ansonsten hatte der Friedhof einiges zu bieten. Anders als in Majdanek, wo auf den Gräbern viel Plastikzeug lag und alles irgendwie glitzerte, ging es hier traditioneller zu. Viele wunderschöne Skulpturen, viele Lichter, die brannten, viele interessante Inschriften. So ein Spaziergang auf einem fast menschenleeren Friedhof fühlt sich an wie ein Museumsbesuch outdoor. So viele große und kleine Geschichten. So viele Fotos. So viele kunstvolle Statuen. Der Regen unterbrach meinen Genuss. War aber auch nicht schlimm, denn es war bereits 13.30 Uhr durch und ich wollte ja noch weiter… Meine Reise beschließe ich bildlich mit einem Gedicht der polnischen Poetin Julia Hartwig. Nie idźm. Lass uns nicht gehen!
Ab.Fahren.
Wieder.Kommen.
Danke Lublin, für die Gastfreundschaft. Für die Tiefe. Und für das so tolle Essen, das ich bisher mit keinem Wort erwähnt habe!