Antje Kröger | Fotokünstlerin

Neapel – Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate! (Mai 2019)

Posted by on Feb 14 2020, in Mensch, Welt

Neapel by Antje Kröger

Meine acht Tage in Neapel, wundervolle Frühjahrstage, waren famos. Viele große und kleine Geschichten konnte ich in Neapel einsammeln, erleben, fühlen…Welch ein wunderbarer Ort dies ist, wie laut, wie dreckig, wie einfach, wie sonnig, wie streitend, wie künstlerisch, wie ästhetisch, wie offen, wie überraschend, wie hügelig, wie gefährlich, wie ruhig, wie emotional, wie lecker, wie lachend, wie regnerisch, wie eng, wie langsam, wie rauschend, wie appetitlich, wie anstrengend, wie wartend, wie lustig, wie ambivalent, wie expressionistisch, wie in sich gekehrt, wie stolz, wie höflich, wie stinkend, wie glaubhaft, wie gläubig, wie süß, wie sauer…In mein Herz hat sich dieser Platz geschlichen. So richtig. So tief. Ich bin froh, dass ich dieses Stück Italien auch entdecken durfte…Neben Osteuropa bin ich am liebsten in Italien. Irgendwie scheint es da Parallelen zu geben, die ich aber noch nicht genau erkennen kann. Ich beobachte das.

Zu viel Eis, zu wenig Maradona.

In der ersten Version meines Textes vergass ich Maradona. Fauxpas. Dabei hatte ich doch die Aufgabe bekommen, auf ihn zu achten. Fotografisch habe ich diese doch ganz gut erledigt. Hier also noch einmal der Hinweis. Dass er mir wirklich sehr häufig begegnet ist. Really.
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Neapel – Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate! (Mai 2019)

NEAPEL

Anarchie

Flug vom frühlingshaften Berlin ins sonnige Neapel.

Wie schön es ist, im Flugzeug ganz vorne zu sitzen und einen alten Italiener neben sich zu wissen, der denkt, frau habe Flugangst, sich also um sie kümmert, weil sie „solo“ unterwegs bist. Hinter mir säuseln ein paar Italienerinnen: Ciao Berlino. Ein wunderbarer Flug. Ich lese: „Ab jetzt ist Ruhe“ von Marion Brasch, bin wieder jung und denke mir: Warum habe ich all diese Dinge in der DDR nicht erlebt? Vor mir sitzt ein Amerikaner, so unglaublich lässig trinkt er drei Gläser Wein, knabbert Nüsschen, liest auf dem kleinen Display seines Handys. Kurz vor Neapels Toren schläft er tief ein. Wir landen und die Menschentraube aus dem Flugzeug steht vor verschlossener Tür. Der Flughafen oder Neapel wollen uns wohl nicht hineinlassen. Irgendwann öffnen sich die Türen und bei mir sofort dieses Italiengefühl. Ich laufe zu meiner Herberge über Stock und Stein, hoch und runter. Selten habe ich einen so tollen Fußweg zu meiner Schlafstätte. Die Gehwege sind zugeparkt. Die Mofas karren mich fast um, die ersten Orangenbäume, Schreine, Italienflaggen, Straßenhunde. Die Sonne steht tief… Ich erreiche meine Herberge kurz vor dem Einbruch der Dunkelheit. Meine erste Nacht allein im Mädchenzimmer. Abends um 21.30 gibt es Pasta für alle, 4 Euro. Ich fremdle. So viele Reisende an einem Tisch, für die meisten ist Reisen ein Sport. Wer hat die meisten Orte in den wenigsten Tagen „geschafft“? Als ich sage, dass ich acht Tage nur in Neapel verbringen werde, sagt ein Typ aus UK: Das ist aber viel. Hmmm. Dabei habe ich Schwierigkeiten, alles, was ich gern erleben möchte, in diese Tage zu packen. So verschieden fühlen, denken, sind Menschen. Ahja, noch eine Geschichte aus Tegel: Als ich den Flughafen betrete, spricht mich eine Frau an: „Du bist doch die Fotografin aus Leipzig, ich hab dein Buch gekauft…“ und umarmt mich.

Das kleine Neapel, das ich heute bereits gesehen habe, fühlt sich anarchisch an!

Ich laufe mir die Füße wund

Keine Maidemos an diesem 1. italienischen Mai, dafür viele Touristen. Ich laufe und laufe. Esse Pizza und Eis auf der Straße. Vorher beobachte ich die Flugzeuge, die minütlich über mich hinweg fliegen. Irgendwann stehe ich vor der Pizzeria de Michele, mit mir mehr als hundert Menschen, sie warten, Nummern werden verteilt. Ein paar Tage später werde ich dieser Pizzeria auch einen Besuch abstatten, die Pizza (wie alle anderen auch) famos finden und neue Freunde an meinem Tisch kennenlernen.

Autos und Mofas (mit und ohne Kratzer und Dellen) überall. Sie karren einen um, passt man nicht auf. Über die Strasse hinüber kommen, heisst – meist – mutig sein. Viele Touristennepperschlepperbauernfänger sind in der Altstadt unterwegs. Die Bewohner wünschen sich wohl auch weniger Besucher. Ich sehe Plakate, die dies eindeutig aussagen. Touristen geht weg!

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Mit Hugo – dem Charmeur – über den Dächern der Stadt

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Jorit Ciro Cerullo (geboren am 24. November 1990)

Da ist ein verbindender Faden zwischen Osteuropa und Neapel (Italien). Der Streetart-Künstler Jorit, Sohn eines Italieners und einer Niederländerin, der sich seit seinem 13. Lebensjahr für Straßenkunst interessiert, vollendet im August 2019 sein erstes Mural in Moskau – abgebildet Juri Gagarin. Jorits Stil ist leicht erkennbar. Berühmte Persönlichkeiten im Stile von Caravaggio. Auf meinen Fotos sehen wir dass Mural von Januarius. Dem Heiligen von Neapel. Ein sehr spannender Zeitgenosse. „Im 19. Jahrhundert wurde er als Heiliger der Androgynen verehrt. Er vereinigte danach männliche und weibliche Attribute und wurde als „femminiello“ bezeichnet. Sein Blut sei nicht nur das gewöhnliche Blut eines Märtyrers, sondern mit dem Blut der ihm zugeschriebenen Menstruation vermischt. (Quelle: Wikipedia)

San Gennaro (der hei­lige Januarius) ist der Pa­tron von Neapel und der Gold­schmie­de, sowie Hel­fer gegen Vul­kan­aus­brü­che.
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Überall wird wie verrückt Lotto gespielt. Oder etwas, dass ich für Lotto halte, überall wird zumindest gerubbelt und dem Patron des Glückes gehuldigt.

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Neapel – Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate! (Mai 2019)

Fotograf trifft Fotografin. Sie zeigen sich gegenseitig ihre Kameras. Und der freundliche Zeitgenosse stellt sich für meine Fotografie vor eine Fotografie, die ihn als Baby zeigt, von seinem Papa angefertigt!

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Neapel ist die Wiege der Pizza

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Die Tage verschwimmen miteinander. Regen und Sonne wechseln sich ab. Jeden Morgen sitze ich mit meinem Kaffee vor der Herberge und geniesse die Sonnenstrahlen, die meine Nase kitzeln. Ich stehe gerne auf. Die Sonne ist Balsam für meinen Körper. Den Weg, den ich nach meinem Kaffee nehme, ist meist gleich. Raus aus der Pension, nach rechts. Am kleinen Bäcker vorbei, dann am Fleischverkäufer, dann am Käseladen. Danach reihen sich ein kleiner Markt und verschiedene andere Geschäfte aneinander bis zur Bushaltestelle. Jedes Mal ist auf den Straßen ein Gewusel. Menschen rasen hin und her, geschäftig, aber immer Zeit für einen Espresso. Das Leben ist schnell und langsam zugleich. Leben und Tod. In Italien gehts schnell, dass frau inmitten eines Trauerzuges verweilt. Alles voller Ambivalenz. Deswegen bin auch ich ambivalent, habe mehrere Kameras dabei. Manchmal mit großer Lust auf analoges Filmmaterial. An manchen Tagen reicht die digitale Fotomaschine.

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Im Museum

Meine Füße tragen Blasen. Große und schmerzhafte. Neue Schuhe einlaufen in Neapel keine gute Idee. Es nützt nichts, ich muss mit Flip Flops los, hinein in neue Abenteuer. Dieser Tag steht unter dem #Kunst. Caravaggio, das Museum thront hoch oben über der Stadt. Ich nehme den Bus. Vor dem Museumsbesuch komme ich an einem runden Wohnhaus vorbei. Es beeindruckt mich. Später recherchiere ich: „Zu erwähnen ist auch der futuristisch anmutende Wohnbaukomplex Piazza Grande. Er wurde 1985 bis 1989 von mehreren Architekten, darunter v. a. Aldo Loris Rossi erbaut. Er wirkt monumental und ist als Kreis erbaut. In der freien Fläche der Mitte des Kreises sollte sich nach der Idee der Planer das soziale Leben (mit Gärten, Sportplatz usw.) abspielen.“ (Quelle Wikipedia) Sie wirkt so bejahend. Diese Siedlung. Rund und eckig. Und leise ist es außerdem.

Weiter gehts mit dem Bus – nach Oben, zu Caravaggio. Museo Nazionale di Capodimonte. Ein Museum, das mich überraschen wird. Caravaggio (11 Euro), dorthin zieht es mich zuerst, dann ins „normale/dauerhafte“ Museum (4 Euro). Doch vorher begegne ich Viktor. Italienischer Dandy. 70 Jahre alt. Ich sitze auf einer Bank vor dem Prachtbau, er setzt sich zu mir, lädt mich ein, in sein Auto, mir die Stadt zu zeigen. Aber erst mag ich ins Museum. Ich verabrede mich mit ihm, zu einem späteren Zeitpunkt. Doch ich bin zu verliebt in die Ausstellung. Viktor ruft mich dreimal an, dann nie wieder. Ich jedoch versinke in der Kunstüppigkeit Neapels. Immer wieder bin ich überrascht. Entzückt. Staune. Irgendwann bin ich voller Beeindruckung. Kaufe mir die erste Erdbeeren des Jahres und fahre mit dem Bus zurück in meinen Stadtteil. Eine Frau in meiner Herberge aus Ankara erzählt mir abends, man hätte ihr gesagt, unser Stadtteil sei nicht sicher. Ich fühle mich sicher. Mache noch einen Spaziergang durch mein Viertel auf Zeit, trinke Kaffee und kaufe Süßigkeiten. Überall bemerken die Menschen, dass ich nicht von hier bin und bestaunen mich wie eine Statue. Ich geniesse das italienische Essen und den Kaffee sehr.

Kurz vor meiner Abreise erfahre ich, dass, während ich im Museum war in der Altstadt ein Mann auf einem Motorroller auf einen anderen Mann schoss. Dabei wurden ein dreijähriges Kind und seine Großmutter schwer verletzt. Ein versuchter Mafiamord. Es ist Italien. Es ist Kampanien. Es ist Neapel. Es ist eine Tradition, der viele Menschen überdrüssig sind.

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Frau Puppendoktora & Teatro Sanita

In der Altstadt in einer Seitengasse ist dieses kleine Museum. Ein Puppenmuseum. Und darin sitzt eine Doktorin. Sie kümmert sich um all die abgefallenen Köpfe, Arme, Beine. Aber zuerst gibt es für mich eine Puppen-Theater-Vorführung. Die Puppen sprechen für sich selbst. Sie sprechen mit mir. Die Familie ist in vierter Generation vom Puppendoktor-Handwerk. Ich bin alleine und ganz beseelt von den Momenten mit einem Spielzeug, dass in meinem Leben einen wichtigen Platz inne hat.

Nach den Püppchen finde ich mich schnell im Teatro Sanita wieder. Ich bekomme eine Privatführung durch das Theater in einer Kirche. Ein Mädchen erzählt mir im besten Englisch über das private Projekt voller Frauen, das es bereits seit sechs Jahren gibt. Die TheatermacherInnen wollen dem Stadtteil und seinen Menschen helfen, vor allem dabei, die mafiösen Strukturen zu durchbrechen. Sie sagt, Kunst könne das, so wie Bildung auch. Das sehe sie als Aufgabe des Theater. Ich bin schon wieder tief berührt. Ich schlendere zurück in mein Quartier, denke darüber nach, welche Aufgabe das Theater bei uns hat. Schließlich war ich ihm mal ganz nah, in meinem Studium. Aber mittlerweile habe ich die Bindung verloren. Deshalb beeindrucken mich die Theaterleute, die ich heute kennenlernen durfte. Sie haben eine Vision. Eine Vision, die vielen anderen Künstlern in einer satten Welt mittlerweile fehlt.

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In die Vorstadt gebummelt (Mercato di Resina & Herculaneum)

Der Vesuv. Fast überall ist er sichtbar. Jeder, der ihm Nahe kommen mag, kann dies tun, mir reicht der Vulkan als Konstante meines Aufenthaltes und der Kurze Blick auf ihn während der Fahrt mit dem Bummelzug in den Vorort. Erst sonnig, dann regnerisch bedeckt dieser Sonntag. Auf zum Flohmarkt. Originale Levis Jeans kaufen. Der Vorort ist verreist, ausgestorben, verschüttet gegangen? Wirkt zumindest so. Schnell Flohmarkt, schnell Kaffee getrunken, schnell das versunkene Herculaneum angeschaut, schnell wieder weg aus dem Vorort der Tristesse. Schnell zurück nach Neapel. In das Tohuwabohu. Heute gehe ich Pizza essen bei Da Michelle. Angeblich die beste P I Z Z A der Stadt. Wollte es erst nicht glauben, aber ja, aber jaja. Ich treffe Anna aus Bonn, eigentlich Mexiko und eine Viki, Studentin aus Mazedonien. Wir verbringen diese Pizzaschlacht gemeinsam. Pizza, Bier und Gelächter. Viki, die ihren Doktor in Neapel macht, verbindet sich gleich mit mir, weil sie einen Freund in Scampia kennt, das ich ja unbedingt besuchen mag, besuchen werde. Ich genieße unser Beisammensein und spaziere danach in mein Bett. Trostlosigkeit erst und Menschen- und Gaumenfreude dann, ein Sonntag.

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Friedhof Fontanelle

Der Friedhof Fontanelle ist ein Beinhaus, wie es sie in ganz Europa gibt oder gab, nur größer. Ein Massengrab, das von den Leiden der Stadt erzählt. Die Geschichte geht zurück ins 16. Jahrhundert. Tuffstein wurde hier für den Bau der Stadt abgebaut. In den entstandenen Höhlen begrub man zuerst diejenigen, für die auf den Friedhöfen der Kirchen in der Stadt kein Platz war. 1654 wurde die Höhle an der Via Fontanelle offiziell zum Friedhof. Die Pest raffte zu der Zeit mehr als die Hälfte der 400.000 Einwohner Neapels dahin. Es folgten Volksaufstände, Hungersnöte und Vulkanausbrüche, und 1837 die Cholera. Erst 1872 sortierte Don Barbati die Gebeine zusammen mit Frauen der Gemeinde in der heutigen Form, und machte den Friedhof öffentlich zugänglich. Na ja, wie so oft haben die Frauen wahrscheinlich die Mammut-Arbeit geleistet. Und ich bin ihnen sehr dankbar dafür, denn so habe ich dieses einmalige Erlebnis gehabt. Auf 3.000 Quadratmetern sind rund 40.000 Gebeinsteile zu sehen. Das hört sich nun schräg an, warum sollte man sich so etwas anschauen? Ganz einfach: Die Präsentation der Gebeine hat eine besondere Ästhetik. Da ist nichts eklig, und es ist auch keine Horrorshow. Ich habe mich gefragt, was für Menschen das wohl waren. Warum Ihnen Bahnkarten (für die Rückfahrt!?), Zigaretten oder Tortenböden gebracht wurden. Und warum wurden einige besonders gebettet, oder in einen Kasten platziert? Auch Zettel mit Bitten oder Danksagungen waren zu sehen. Das hängt wohl wieder mit den Frauen zusammen, die deren Gebeine reinigten und sortierten. Sie beteten dabei, um die Verstorbenen vor Fegefeuer und Hölle zu bewahren. Und baten die Verstorbenen um diverse Dinge. Wenn die Wünsche in Erfüllung gingen, dann wurde den Gebeinen des „adoptierten“ Verstorbenen Gutes getan. Und auch heute noch werden Schädel adoptiert, um Hilfe gebeten, und dann mit allerlei Dingen belohnt. So ist dieser Ort der Toten auch heute noch in berührender Weise lebendig.

https://schaedelmaedel.de/neapel-fontanelle/

Der Weg zum Friedhof ist wunderschön, aber auch anstrengend, hoch und runter, Stock und Stein. Aber auch Orangenbäume, zutrauliche Menschen, die aus ihren Fensterläden blicken, Heiligenfiguren… Für mich ist diesen Ort zu besuchen ein MUSS. Nicht nur fotografisch. Dieser Ort ist eine Besonderheit. Viel Kraft und Energie sind in ihn geflossen. Er lädt uns dazu ein, keine Angst zu haben und sich mit der Endlichkeit auseinanderzusetzen. Er fühlt sich für mich wenig nach Friedhof an, mehr nach Kirche. Mehr nach Besinnung. Auf den Friedhöfen, die ich ansonsten besuche, erfahre ich Persönliches, geschichtliches. Das ist hier anders. Nackte Gebeine und Schädel. Tausendfach.

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Neapel – Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate! (Mai 2019)

Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate (Lasst alle Hoffnung fahren, die ihr eintretet)

Der Platz Dantes ist mir der liebste in Neapel. Es dauert ein paar Tage bis ich ihn zum ersten Mal betrete, aber von diesem Momente an bin ich wirklich jeden Tag (meist am Abend) dort und statte Dante Alighieri meinen Besuch ab. Ich schaue dem Spiel der Tauben zu, die um die Adlernase des Dichters fliegen (dabei ist diese Nase ja eine Lüge), beobachte seine ausgestreckte Hand im Zusammenspiel mit der untergehenden Sonne und den Straßenlampen oder staune wie wahrscheinlich auch der italienische Held selbst über lautes Feuerwerk genau vor seinem Sockel. Das knallt so laut, dass ich im ersten Moment an mafiöse Schüsse denke, es ist schließlich auch noch hell an diesem Sonntag, aber der Gottesdienst in der Kirche gegenüber ist gerade zu Ende gegangen, vielleicht muss dies so laut beknallt werden. Auf jeden Fall sitze ich oft nahe Dante und denke über die Welt nach, mit einem Eis oder manchmal auch gesundem Obstsaft in der Hand. Überall gibt es hier an den Wänden Kunst zu betrachten, die manchmal schon am nächsten Tag hinweg ist. Kafkas Verwandlung in ein Insekt zum Beispiel oder das Plakat von Ruin Air, das mich auffordert, über das Billigfliegen nachzudenken, natürlich nicht nur mich, aber dennoch fühle ich mich ertappt. Dante, der Herr Papa der italienischen Sprache. Überall verehrt in Italien, nicht nur in Florenz seiner Geburtsstadt. Klar, bei so viel Lokalkolorit, dass man nicht bemüht ist, andere Sprachen zu erlernen oder gar zu sprechen. Macht nichts, denn ich gebe mir mit meinen rudimentären italienischen Kenntnissen wirklich Mühe. Ti giuro… Und die Göttliche Komödie ist ja bereits in die meisten Sprachen übersetzt…Ich las Teile davon während meines Studiums, war viel zu jung, um zu verstehen, aber als ich das erste Mal Rodins „Höllentor“ zu Gesichte bekam, fing ich an zu begreifen…

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Scampia

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Wenn ich reise, habe ich meist wenig Angst – auch nicht vor „Problembezirken“ oder „Nichttouristischen Areas“. Sehe ich mich sowieso niemals als Touristin, sondern als Beobachterin, Erfasserin, Erzählerin, die magisch angezogen wird von der „unschönen“ Seite eines Ortes. Schon mit 19 irrte ich durch die Bronx, übernachtete damals schließlich in einem Seemanswohnheim – nur für Seemänner, nicht für gestrandete Wälinen. Damit der Besitzer mich von der Straße weg wusste, gewährte er mir diesen Schlafplatz. In meiner vorigen Behausung hatte man sich mit Messern bedroht, da wollte ich nicht mehr sein. Ein paar Jahre später in Kaliningrad eine ähnliche Situation, ich konnte mir nur die Matrosenunterkunft leisten, einige der Seebären soff ich unter den Tisch, sie wollten mir dafür an die Wäsche, meine Tür schloss ich des Nachts doppelt ab. In Jerusalem verbrachte ich mehrere Tage in den streng orthodoxen Vierteln, mehr als einmal begab ich mich in gefährlich-brenzliche Situationen, wo mir der Zufall oder Hilfemensch heraus halfen. In meinem Osteuropa der letzten Jahre suchte ich natürlich immer wieder Romaviertel auf oder soziale Brennpunkte, ohne mir darüber großartig Gedanken zu machen oder gar Angst aufkeimen zu lassen. Als allein-reisende Frau gibt es wenig, was mich unruhig werden lässt. Im Frühlings-Neapel war dies anders. Ich hatte mich tatsächlich beeinflussen lassen – Vorsicht, Angst aufgebaut.

Die Mafia. Gefährlich in Neapel. Mit der Camorra ist nicht zu spaßen. Nach Scampia darf man nicht allein gehen/fahren. Fotografieren schon mal gar nicht. Meine Lektion von Neapel: nicht von Anderen etwas einreden lassen, was man selbst nicht spürt. Ich schwankte. Am vorletzten Tag machte ich mich mit einem Bus dennoch auf dem Weg. Alle Kameras im Rucksack, natürlich . Die Sonne schien. Mein Kontakt aus Scampia, den ich die Tage davor aufgetrieben hatte, schickte mir am Ende des Tages folgende Nachricht:

„You’ve sent me a lot of strenght with your words and I believe you are strong. I’m so happy that you spended a wonderful day in Scampia, in my neighborhood.“ Und ja, dies tat ich. Ich schlenderte auf und ab, trank Kaffee und aß Eis. Fotografierte, redete mit Menschen, wunderte mich, beobachtete… Ich vergaß niemals, an welchem Platz ich mich befand. Respekt ist beim Reisen immer das höchste Gut. Aber ich ließ mich nicht einschüchtern von all dem Gelesenen, Gehörten, Gesagten. Und ich freue mich auf mein nächstes Mal in Scampia, wenn mich mein neapolitanischer Kontakt durch seine Nachbarschaft begleitet, mir die Geschichten der letzten (gewaltigen) Jahre erzählt, ich wie ein Schwamm alles aufsaugen kann und werde.

Mit dem Bus fahre ich nach Scampia. Diese Fahrt dauert fast eine Stunde. Der öffentliche Verkehr Neapels ist eine Geschichte für sich. Manchmal dauert es ziemlich lange bis ein Bus kommt. Und wenn er dann kommt, ist er auch meist ziemlich voll. Ich laufe umher in Scampia, als ich die Vele (Segel) das erste Mal sehe, bin ich sehr beeindruckt! Ich treffe Raffael, den gefallenen Engel. Ich gehe einmal um die Segel herum. Überall Müll. Wenige Menschen. Kinder kommen von der Schule, sprechen mich auf englisch an. Ich kaufe mir einen Becher Crasheis mit Geschmack an einem kleinen Karren, der an einer der Schulen steht. Laufe dann bis zu einem Café , trinke Espresso. Insgesamt begegne ich wenigen Menschen, außer ein paar Romafrauen. Einige der Segel-Blocks sind bewohnt. Andere schon leer. Zum Abriss bereit. Ich bleibe noch ein wenig in der Mittagshitze, laufe dann zur U-Bahn. Viel Kunst an der Station. Die Strecke zurück in die „Stadt“ schön. Am Anfang sogar oberirdisch… Blick über Neapel. Ich fahre ins Zentrum, esse Eis. Ein alter Italiener spricht mich an, er warte auf einen Freund, sie wollen für einen Auftritt proben. Er macht mir Komplimente: „Deine Augen sprechen. Sie sind grau und blau. Besonders.“ Das können sie, die Italiener. Ich laufe durch die Gassen. Esse dann noch eine richtig gute Pizza zum Tagesausklang und trinke Bier! Ich habe dieses Getränk lieb gewonnen während dieser Reise.

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Additamentum

Nach Neapel wollte ich 2019, im dritten Quartal, noch Palermo besuchen. Der Flug war schon gebucht. Aber ich hatte nicht die Kraft für diese Reise. Und ich bemerke nun, wie sie mir fehlt. Gemacht zu haben. Wie ein Teil von einem Puzzle, was einfach fehlt. Ich muss das Puzzle-Stückchen dringend finden.

Comments

  • Marc

    Hi, ich heiße Marc und
    besuche ab und an deine Webseite und jetzt mal wieder nach langer Zeit.
    Sehr schöne Chronik und Fotos, habe ich mit Begeisterung gelesen. Bin selbst ein alter (seit ’82) Italienreisender, in den letzten Jahren zwar weniger aber immer noch sehr interessiert. Neapel ist wie der Bauch eines Wals und somit der Welt, deine Fotos und Worte spiegeln das wieder. Besonders „gefallen“ haben mir die Fotos und Zeilen über das berühmt berüchtigte Scampia, und ja, Erfahrungen sollte man stets selbst machen. Mach es gut und komm gut durch diese seltsame Zeit.
    Marc

    • Lieber Marc, vielen Dank für Deinen schönen Kommentar. Ich vermisse Italien, gerade jetzt. Und bin traurig über die Tragödie, die sich dort vollzieht. Eigentlich sollte ich gerade in Palermo sein. Da hat es das Schicksal schon zum zweiten Mal nicht gewollt. Ich hoffe, alles geht vorüber, irgendwann. Dann auf nach Italie, geliebt wird es ja schon von uns. Liebst Antje

  • Die Fotos sind sehr eindrucksvoll. Das Spiel von Licht und Schatten. Die Darstellung der Menschen, ausdrucksvoller geht es nicht.

    Wenn die Bilder nicht so viel Verfall und Elend zeigen würden. Wenn es niemand fotografiert, gerät es in Vergessenheit.

    Noch viel mehr von diesen Bildern.
    Jens

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  • […] ein Schauplatz für Vandalismus und Kriminalität, jedoch nicht vergleichbar mit Scampia in Neapel (Meine Reisereportage aus Neapel). Bewegen konnte ich mich ziemlich frei und die wenigen Menschen, denen ich begegnete, warfen mir […]

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