9-Euro-Ausblicke-Und-Weiterreisend / TEIL II
Der Plan: Mit dem 9-Euro-Ticket all die Orte im Osten der Republik abfahren, die ich noch nie sah in meinem Leben, um die Besuche analog festzuhalten, also den Status Quo dieser Plätze einzufrieren.
Inhaltsverzeichnis
Das mit Magdeburg ist so eine Sache.
Warum dieser Ort so lange auf mich warten musste, bleibt unklar. Seit 25 Jahren fahre ich regelmäßig mit dem Zug zwischen Mecklenburg und Leipzig hin und her – anfangs häufiger, später seltener, aber fast immer über Magdeburg. Den Bahnhof und die Silhouette der sachsen-anhaltinischen Hauptstadt kannte ich daher gut. Nur ausgestiegen bin ich nie. Auch sonst ergab sich in all den Jahren keine Gelegenheit, Magdeburg einen Besuch abzustatten. Ich kannte niemanden, der dort lebte, und so blieb die Stadt eine Art Black Box für mich. Schade eigentlich.
Im Sommer 2022 habe ich das zum ersten Mal geändert – und fand Magdeburg ziemlich knorke. Ein bisschen wie ein kleineres Leipzig, dachte ich in den ersten Stunden meines Aufenthalts. Später gewann mein Eindruck an Tiefe: Hier schien die Zeit stillzustehen. Manche Menschen wirkten, als sei die DDR nie vorbei, und die vielen Plattenbauten verstärkten dieses Gefühl. Die Transformation zur BRD schien noch nicht abgeschlossen. Überraschenderweise fühlte ich mich wohl in dieser Atmosphäre.
Am Bahnhof bemerkte ich die Tramlinie 4 Richtung Cracau. Als ich die sah, wusste ich: Das wird ein guter Tag. In meinen Fotoarchiven habe ich übrigens überraschend viele Aufnahmen von Tramlinien mit der Nummer 4 gefunden – ganz unterbewusst. In Leipzig bringt mich die 4 nach Hause, und auch in Krakau, das ich im intensiven Sommer 2018 entdeckte, habe ich sie oft fotografiert.
Zurück zu Magdeburg: Auf das Hundertwasserhaus hätte ich verzichten können, angeschaut habe ich es trotzdem. Viel faszinierender fand ich jedoch die Plattenbauten neben altem Kirchengemäuer, das historische Warenhaus, das heute ein Karstadt ist, und diese einzigartige Ambivalenz der Stadt. Magdeburg ist voller Kontraste: rund neben eckig, voll neben leer, Gründerzeit neben DDR, alt neben jung, schön neben hässlich, erinnern neben vergessen. Eine Mischung, die mich in ihren Bann zog.
Ich muss unbedingt noch einmal wiederkommen, um mehr zu entdecken.
In diesem Sommer beschloss ich, in Güterglück auszusteigen.
Nur für zwei Stunden, nur für ein paar Fotos. Auf vielen meiner Bahnfahrten hatte der Name des Ortes eine seltsame Anziehungskraft auf mich ausgeübt. Güterglück – was für ein klangvolles Versprechen. Was mochte wohl hinter dem verfallenen Bahnhofshäuschen liegen? Wie lebten die Menschen hier?
Diese Fragen hatte ich mir schon lange gestellt. Und natürlich fielen die Antworten am Ende eher banal aus. Vielleicht ist es gerade das Banale, das manchmal einen besonderen Zauber entfaltet. Deshalb lasse ich es bei diesen wenigen Worten – manches soll einfach zauberhaft bleiben.
Ende August in Görlitz
Die Sonne durchflutete die Stadt, ließ sie anmutig, stolz und wunderschön erscheinen. Ganz anders als im trüben Juli, als Görlitz langatmig und fast ein wenig langweilig wirkte. Doch an diesem heißen Spätsommertag zeigte sich, was ich im Juli nur ahnen konnte: die wahre Schönheit dieser Stadt – ein Tag vor dem großen Fest, das auf beiden Seiten der Neiße beginnen sollte.
Besonders glücklich machten mich an diesem Tag die Begegnungen mit zwei betagten Damen. Die erste traf ich bereits im Zug – eine ehemalige Lehrerin mit blauwässrigen Augen. Ihr Mann parkte noch das Auto, weshalb unser Zugführer in Spremberg großzügige drei Minuten länger wartete. Wir sprachen ununterbrochen, von Spremberg bis Görlitz, wo das Paar ein Orgelkonzert auf der berühmten Sonnenorgel der Kirche St. Peter und Paul besuchen wollte. Später, als ich an der imposanten Kirche vorbeikam, sah ich sie aus dem Augenwinkel noch einmal, ließ sie aber ungestört in ihrem Moment.
Die zweite Begegnung war mit einer fast 80-jährigen Dame, die vor dem Theater saß, ganz in sich ruhend. Über dem Theater prangte der Schriftzug „Deutschland, Deutschland“. Als ich mich zu ihr setzte, begann sie sofort zu erzählen – eine halbe Lebensgeschichte aus der Perspektive einer gebürtigen Görlitzerin, die einst beim Rat der Stadt gearbeitet hatte. Ihre Worte hatten eine Mischung aus Strenge und Klugheit, gepaart mit einer leisen Bescheidenheit. Sie war eine Macherin, dachte ich, und lauschte mit gespitzten Ohren. Ihre Wünsche zum Abschied – Gesundheit und Erfolg – klangen fast mütterlich, wie ein stummes Verstehen meines immerwährenden Kampfes als Freiberuflerin.
Die Stadt selbst war an diesem Spätsommertag wie ein Fest – vielfarbig, fast rauschend. Beinahe jeder Weg, den ich ging, war neu, keine Spur ausgetretener Pfade. Ich landete in der Verrätergasse, einem Namen voller Geschichte, der heute nur noch als Kuriosum existiert. Der Rio-Reiser-Platz liegt gleich um die Ecke, doch die Vorstellung, einen Reisepass mit dem Eintrag „Verrätergasse“ zu besitzen, fand ich deutlich charmanter. Als in dieser engen Gasse dann auch noch eine Polizistin entlanglief, war der Moment von Ironie durchzogen.
Wieso war ich noch einmal nach Görlitz gekommen? Um meine neue Lesebrille, die ich bei meinem letzten Besuch auf der polnischen Seite des Flusses bei einem verschrobenen Optiker in Auftrag gegeben hatte, abzuholen. Zufrieden setzte ich mich mit einem Kaffee ans Neiße-Ufer, ließ die warme Luft und das sanfte Plätschern des Flusses auf mich wirken. Noch ahnte ich nicht, dass dieser Sommer nicht enden würde – dass die Temperaturen bis in den Oktober hinein warm bleiben sollten.
Liebe auf den ersten Blick: Zwickau
Aus der Kälte heraus überraschte mich dieser Ort völlig. Ich weiß nicht, was mich mit der Stadt verband. Ehrlich gesagt – nichts. Wenn überhaupt, dann der Trabbi. Und doch: Bähm. Flash. Schon Görlitz hatte einen hübschen Bahnhof, aber Zwickau? DDR pur. Dieses Design, dieses Gefühl – beflügelte mich. Die erste Stunde meines Tages verbrachte ich allein dort, fasziniert. Selbst die beiden Dorfpolizisten aus der „großen“ Stadt schmunzelten über mein Interesse. Nicht spöttisch, sondern wohlwollend. Sie fanden es, so sagten sie, „niedlich“.
Als ich schließlich aus diesem kleinen Wunderwerk der Baukunst heraustrat, fiel Sonnenlicht auf die Bahnhofstraße. Mein Körper folgte dem Ruf der Stadt, glitt regelrecht ins Zentrum. Das Stadtwappen? Schwäne. Dass ich später wie magisch angezogen zum Schwanenteich wanderte, verwunderte also nicht.
Doch vorher ließ ich die Architektur auf mich wirken: Romantik und Brachial-Bau – alles vertreten, manchmal nebeneinander, in friedlicher Koexistenz. „Glückauf“ begegnete mir, der Silberbergbau prägte die Stadt. Schumann, Fröbe, Pechstein und Horch gaben sich ebenso die Ehre.
Und dann, zum Schluss, die Pappe: fahrend, in einem hässlichen Eierschalenweiß.
Ich habe gerade nicht viel mehr Worte für Zwickau. Aber: ganz viel Liebe auf den ersten Blick!