(Zug)Reisegeschichten aus deutschem Land mit dem Konvolut analoger Kameras – WURZEN, TORGAU, DRUMHERUM von LEIPZIG
9-Euro-Ausblicke-Und-Weiterreisend / TEIL VII
Der Plan: Mit dem 9-Euro-Ticket all die Orte im Osten der Republik abfahren, die ich noch nie sah in meinem Leben, um die Besuche analog auf Filmmaterial festzuhalten, also den Status Quo dieser Plätze einzufrieren. Das 9-Euro-Ticket ist Geschichte. Mittlerweile nenne ich ein Deutschlandticket mein Eigen. Wenn die Sonne zwischen den Wolken durchschaut, es nicht regnet, ich Zeit habe und fotografische Lust verspüre, mache ich mich immer wieder auf den Weg. Meine Themen sind Brutalismus, sozialistische Überbleibsel, Mensch und Raum, Vergangenes, Vergilbtes, Totes, Skulpturen und alles, was meinen Geist und meine Ästhetik anspringen mag.
Wurzen. Die Stadt von Ringelnatz, den Keksen und vieler Rechtsextremer. Seitdem ich in Leipzig lebe, kenne ich die Aussage, dass die Stadt eine Hochburg der Rechten sei. Das mag stimmen. Aber dennoch hat sie tatsächlich auch ein „wenig“ mehr zu bieten. Ringelnatz zum Beispiel. Joachim Ringelnatz (eigentlich Hans Bötticher) wurde 1883 in Wurzen geboren. Die sächsische Stadt war seine Geburtsstadt, in der sein Vater als Mustermacher in einer Tapetenfabrik arbeitete. Die Familie verließ Wurzen jedoch in Richtung Leipzig. Dennoch spielt der Dichter in Wurzen eine große Rolle. Zum Beispiel gibt es ein jährliches Ringelnatz-Fest.
Was in Wurzen auch herrlich funktioniert: An einem Frühlingssonntag kannst du als Besucherin fast keinem Menschen begegnen. Die Stadt wirkt leer von Lebendigem. Alles scheint vergangen. Alles scheint vergessen. Alles scheint verlassen. Egal ob rechts, links oder mittig.
TORGAU (September 2024)
Torgau im Sommer ’24 war ein großer Zufall. Eigentlich war ich auf dem Weg nach Brandenburg, um dort etwas fotografisch zu entdecken. Doch der Zug strandete aufgrund technischer Probleme in Eilenburg. Es war klar, dass ich alle meine Anschlüsse nicht mehr bekommen würde. Also änderte ich meinen Plan – erst im Kopf und dann in der Realität: Torgau.
Ich war schon einmal hier gewesen, um zu fotografieren. Damals hatten wir allerdings gleich nach dem Bahnhof in eine Art „Industriegebiet“ abgebogen, ohne die Stadt selbst zu besichtigen. An diesem Tag war das anders. Ich erkundete Torgau – eine Stadt, an der ich mit dem Zug bestimmt schon dutzende Male vorbeigekommen war. Ich mochte die Stadt, auch wenn ich nicht vielen Menschen begegnete.
Eine Begegnung jedoch wird mir für immer in Erinnerung bleiben – vielleicht sogar zwei. Irgendwann am Nachmittag besuchte ich die Ausstellung Soldaten an der Elbe. Diese Fotoausstellung dokumentiert mit seltenen Bildern den Weg der amerikanischen Militärpatrouillen zu den Sowjets auf der Ostseite der Elbe. Ein ehemaliger Geschichtslehrer nahm sich viel Zeit für mich, beantwortete meine Fragen, und wir philosophierten, diskutierten über Politik. Später durfte ich ihm auch von meiner Fotografie erzählen.
Das allein war schon sehr wertvoll, doch plötzlich erzählte er mir von einem Flüchtlingstreck aus Königsberg, der 1945 in Sachsen ankam. Ein fürchterliches Unglück hatte sich ereignet, als eine Brücke zusammenbrach, während die Menschen versuchten, die Mulde oder die Elbe (ich weiß es nicht mehr genau) zu überqueren. Hunderte kamen ums Leben. Es ist sehr wahrscheinlich, dass meine Großmutter väterlicherseits und ihre Familie dieses Unglück überlebt hatten. Ich war tief berührt.
Anders berührt war ich eine halbe Stunde später. Ich saß vor Schloss Hartenfels, als ein rundlicher, älterer Mann auf mich zukam und mich im tiefsten Sächsisch fragte: „Sagen Sie mal, gibt es die Bären nicht mehr?“ Ich war zunächst verwirrt und wusste gar nicht, wovon er sprach. Etwas später, als ich das Schloss betrat, sah ich sie: die Braunbären. Ah, die hatte er wohl gemeint. Sie leben im Schlossgraben und sind berühmt. Nach meiner Recherche erfuhr ich, dass die Tradition der Haltung und Züchtung von Braunbären im Schlossgraben 500 Jahre alt ist. Schon verrückt, was in der vermeintlichen Provinz alles los ist.
Zum Abschluss gab es noch eine kleine Erinnerung an meinen Großvater mütterlicherseits. Einer der Bären hieß Benno – genau wie mein Opa, der Journalist, den ich leider nie kennenlernen durfte.