Antje Kröger | Fotokünstlerin

9-Euro-Ausblicke-Und-Weiterreisend / Inhaltsverzeichnis

Zugreisegeschichten aus deutschem Land mit dem Konvolut analoger Kameras

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9-Euro-Ausblicke-Und-Weiterreisend / Inhalt

Der Plan: Mit dem 9-Euro-Ticket all die Orte im Osten der Republik abfahren, die ich noch nie sah in meinem Leben, um die Besuche analog festzuhalten, also den Status Quo dieser Plätze einzufrieren.

EPILOG

Januar 2025: Die Fotos und Texte dieses Projekts mussten liegen bleiben. Das Leben kam dazwischen. Ich widmete mich neuen, anderen Themen. Nun aber möchte ich meinen fotografischen Schatz endlich in die Freiheit schicken!

Ostdeutschland, du immer noch unbekanntes Stück Land, selbst für mich Ossimädchen, aufgewachsen im Bezirk Schwerin meines Geburtslandes, der DDR. Als ich ein Kind war, fuhr die Familie am Wochenende im Sommer gerne manchmal nach Rostock/Warnemünde und an die Ostsee, manchmal tuckerten wir auch mit der Eisenbahn nach Ostberlin. Diese Ausflüge liebte ich sehr: In Berlin gab es Kakao in pyramidenartigen Behältern, den ich mit dünnem Strohhalm auszuschte, Würzfleisch und Zitronenspeise in der Gaststätte und Actionprodukte (DDR-Kosmetik im hippen pink-schwarzen Look, ich mochte das Haarspray und blauen Lippenstift und Nagellack), einmal beobachteten wir den Start der Friedensfahrt, Olaf Ludwig fuhr an mir vorbei und Petra Zieger trällerte dazu ein Liedchen. Vielleicht war ich 10 Jahre alt. Manchmal (genau) acht Mal durfte ich ins Pionier-Ferienlager (meist nach Prora an die Ostsee, aber auch einmal nach Bärenstein und einmal nach Frauenwald in Thüringen). Unsere Urlaube verbrachten wir, soweit ich mich erinnern kann, im sozialistisch verbrüderten Ausland. Sehr regelmäßig navigierte mein Vater den braunen Skoda samt Ehefrau (später dann ohne) und zwei Kindern über die Autobahn (die er selbst einmal mitgebaut hatte) von Mecklenburg nach Sachsen und natürlich zurück, um die Großeltern zu besuchen. Während dieser Besuche besuchten wir wiederum Dresden oder Moritzburg. Die anderen Teile meines Heimatlandes aber blieben für mich ungesehen. Mit 19 Jahren, nach dem Abitur, fuhr ich mit dem Zug allein mit zwei Koffern von Mecklenburg nach Sachsen, nach Leipzig. Ich schrieb mich an der Universität ein und blieb. Bis heute. Dazwischen statte ich ziemlich viele Male meinem geliebten Berlin einen Besuch ab, blieb immer mal länger, um dort zu arbeiten. Meine Erwachsenen-Reisen brachten mich an allerlei Orte der Welt. Doch kaum in den Osten der deutschen Republik. Manchmal strandete ich in Stralsund, weil meine Schwester dort lebt, eher selten besuchte ich meine übrige gebliebene Vater-Familie in Sachsen. Manchmal, in meinen 20ern, fuhr ich nach Halle/Saale, weil dort ein anderer Teil der Familie wohnte. Alle anderen Flecken des Ostens blieben mir verschlossen. Obwohl ich so häufig mit dem Zug durch sie hindurchfuhr, reichte meine Neugierde einfach nicht aus, um auszusteigen. Während der Corona-Eingesperrt-Zeit besuchte ich ein paar Orte in Thüringen zum ersten Mal: Weimar, Jena, Erfurt.

Das alles war ein großer Zufall. Aber ich war plietsch genug, diesen Zufall in die Hände zu nehmen, um schließlich und endlich einen Schatz zu heben. Einen Schatz aus (meist) analogen Fotografien. Aus Orten im deutschen Lande, die ich vorher noch nie besucht hatte (zu den Ausnahmen kommen wir später). Was war los im deutschen Sommer 2022?

Vom 1. Juni bis zum 31. August wurde ein Monatsticket für Mann und Maus, Frau und Kind – für alle, wirklich alle – im öffentlichen Personennahverkehr für 9 Euro von Bund und Bundesländern angeboten. 52 Millionen dieser Tickets wurden über den Ladentisch der Deutschen Bahn verkauft (finanziert von der Wums-Regierung). Dreimal für. Mittlerweile hat unsere Regierung jedoch beschlossen, dieses Ticket nicht mehr zu verkaufen (Argument: Es war nur temporär geplant, als Teil des Entlastungspakets … und dass so viele Menschen es begrüßen würden, damit hatte niemand gerechnet!) Was für eine verpasste Chance, welch ein Zeichen der Zeit, dass die Teilhabe aller Menschen (endlich mal wirklich aller Menschen, außer Menschen mit Behinderungen, aber diese haben es im öffentlichen Verkehr generell sehr schwer) abgelehnt wird. Die Teilnahme am öffentlichen Leben sollte bitte nur für diejenigen reserviert sein, die entweder hart dafür arbeiten, hart geerbt haben, hart von Renditen oder anderen finanziellen Einnahmen leben. Seit Mai 2023 haben wir nun das monatliche Deutschlandticket für zunächst 49 Euro, seit 2025 für 58 Euro mit ähnlichen Konditionen. Das ist jedoch viel zu teuer für die notwendige Energiewende, viel zu teuer für Menschen mit Grundsicherung, Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene, Migrantinnen, Flüchtlinge, Autofahrerinnen …

Ich war und bin großer Fan des 9-Euro-Tickets und/oder der „kostenlosen“ Nutzung des öffentlichen Verkehrs (zum Beispiel finanziert aus Steuern). Persönlich, politisch und natürlich auch aus kreativ-künstlerischen Gründen. Genutzt habe ich das Ticket in den drei Sommermonaten 2022 wie wild. Lassen wir das Christian Lindner nicht hören, denn welche meiner Fahrten war wirklich „notwendig“? Müssen wir endlich mal Begriffe wie „Arbeit“, „Notwendigkeit“, „Bedingungslosigkeit“ neu oder endlich mal fair definieren?!

Aber zurück zum Zug-Fahrerei-Fotografie-Erlebnis: Es begann alles mit einem Ferienkind-Besuch bei mir in Leipzig. (Vorher war ich allerdings schon öfter wild in die Heimat nach Mecklenburg gefahren, um ein anderes geliebtes Kind häufig zu besuchen!). Das Ferienkind war also Ende Juli bei mir zu Besuch, kannte Leipzig schon ziemlich gut. Also raus aus der Stadt, rein ins Was-ist-noch-so-los-in-Sachsen-Vergnügen. Das Kind war schon mit einem 9-Euro-Ticket aus dem Norden der Republik angereist. Ich recherchierte und entschied mich für Görlitz. Aus dem Bauch heraus. Nachdem ich eine Freundin befragt hatte, die dort aufgewachsen war, stand es fest. Mein Abenteuer begann (nur die erste Reise mit Begleitung) von Ende Juli bis Ende August. Mit dem Zug durch Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg. Meist waren es Tagesreisen von Leipzig aus; nur einmal übernachtete ich „außerhalb“. Ich erlebte so unendlich viel. Begegnungen und Erlebnisse en masse. Meine Züge waren immer pünktlich (oh Wunder), aber fast immer vollgestopft mit Menschenmassen. Ich schwitzte in den Zügen, schlief in ihnen, lauschte fremden Gesprächen, schaute oft aus schmutzigen Fenstern in die Ferne, hörte Musik oder Podcasts. Was ich wirklich selten tat, war das Handy aus der Tasche zu holen. Meine Blicke mussten immer geschärft sein für den Augenblick und das Bild, das sich daraus ergab. Und ich genoss diese, meine Freiheit.