Der Plan: Mit dem 9-Euro-Ticket all die Orte im Osten der Republik abfahren, die ich noch nie sah in meinem Leben, um die Besuche analog festzuhalten, somit den Status Quo dieser Plätze einzufrieren. Ab Mitte dieses Teiles kommen wir zu: Weiterreisend. Das 9-Euro-Ticket ist Geschichte.

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LÜBBENAU (August 2022)

Als Kind war ich vielleicht einmal im Spreewald. Zumindest existiert ein Schwarz-Weiß-Bildnis von Kähnen, Teile meiner Familie an Bord. War ich dabei oder nicht? Niemand weiß es genau. Ist aber auch egal. Ich erinnere mich nämlich überhaupt nicht. Also: Ort nicht besucht!

Der Spreewald – über dieses Wort machte ich mir so meine Gedanken. Der Fluss im Wald. Schön und poetisch! Der Bahnhof in Lübbenau ähnelt dem in Dessau. Bahnhofs-Tunnel: nach links dahin, nach rechts dorthin. Alle bewegten sich nach links, wie an einer unsichtbaren Strippe gezogen. Also ging ich nach rechts (politisch nicht so gut, aber im Tunnel war es der Weg nach Neu-Lübbenau). Erst Platte, dann Rewe, Kohlekraftwerk, Gleis-13-Kulturtreff, Sowjetisches Ehrenmal und Fußballstadion. Erst Energie-Weg, dann Apfelallee, dann Straße des Friedens, dann Salat im modernsten Rewe, den ich je betrat – zum Mittagessen. Ab auf die Toilette und dann endlich Fußmarsch durch die Altstadt zu den Touristen.

Auf dem Weg dorthin kam ich am Sportplatz vorbei. Dort gab es noch so eine schöne, „ostige“ Schiedsrichterkabine in der Luft, die mich wirklich ästhetisch begeisterte.

In der Altstadt gönnte ich mir „Kalten Hund“. Niemand bekommt diese Ostspezialität so hin wie DDR-Großmütter. Auch ich habe es schon ein Dutzend Mal versucht, aber nischte. Dafür erinnere ich mich genau: Es war immer kalt draußen, wenn die Stief-Großmutter (wirklich die beste Köchin und Bäckerin der Welt – ansonsten eher mit Haaren auf den Zähnen ausgestattet, eine wirklich böse Frau) Kalten Hund zauberte. Kalter Hund von kalter Frau! Dieser wartete dann auf der Veranda, weil es dort schön eisig war, auf den Verzehr. Auch die Reste vom Kaffeetrinken wurden immer auf dieser Kühl-Veranda gelagert. Horror. Ich schlich um die Aluminiumform herum und wollte am liebsten alles in mich hineinschlingen. Manchmal war der Kuchen schon geschnitten, sodass ich mir ein Stückchen klauen konnte, um es mir schnell zwischen die Kiemen zu schieben.

Zum Hundekuchen gab es im Spreewald Eis und den teuersten Espresso meines Lebens. Dann ging es für mich ab zum Hafen, zu den Kähnen, zu den Kapitänen und Kapitäninnen – dem ostdeutschen Pendant zum venezianischen Gondoliere. Ein kurzer Abstecher auf einen Hofflohmarkt noch, und wieder habe ich die Architektur bestaunt. Zum Schluss nahm ich keine sauren Gurken mit wie alle anderen, sondern Äpfel aus einem Bollerwagen.

Und noch eine kulinarische Geschichte zum Abschluss: In Lübbenau sah ich im touristischen Viertel immer wieder das Angebot von Plinsen. Sofort erinnerte ich mich an diese Leckerei, hatte den Geschmack auf der Zunge. Das Wort „Plinse“ hatte ich Ewigkeiten weder gehört noch gelesen. Sie gab es bei meiner sächsischen Großmutter. Die war gar nicht wirklich sächsisch, die liebste Omama – so wie ich nicht sächsisch bin, sondern zugezogen. Mich zog es ja recht freiwillig nach Sachsen; meine Großmutter kam aus Königsberg in einem Flüchtlingstreck. Ob sie die Plinsen aus Ostpreußen mitbrachte? Oder ob sie sich das Rezept beim sächsischen Urvolk abgeschaut hatte?

Ich jedenfalls kann keine guten Eierkuchen – so heißen Plinsen bei mir – zaubern, so wie alle meine Großmütter das konnten.

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CHEMNITZ (September 2022)

In Chemnitz war ich bisher meist zu Besuch bei meinen Freunden in der Holzkirche oder im Museum Gunzenhauser, um mir vornehmlich die Werke von Dix und anderen Vertretern der Neuen Sachlichkeit anzuschauen. Noch nie zuvor hatte ich Karl Marx besucht oder einen ausgiebigen Stadtbummel gemacht. Irgendwo las ich neulich, dass in Chemnitz die meisten Ukrainerinnen untergekommen seien. Die Stadt erinnere sie sehr an „zu Hause“. Oh ja, wirklich wahr. So viel Platte im Zentrum von Chemnitz, so viel brachiale Architektur – davon können die ukrainischen Städte ja auch ein Liedchen singen.

Ob ich die Stadt mag, kann ich nicht sagen. Ich schwanke da sehr hin und her. Die Menschen, die ich in Chemnitz kenne, mag ich sehr. Die Stadt hat es mir bisher bei jedem Besuch auch ziemlich leicht gemacht. Aber ich spüre wenig Lust darauf, mehr entdecken zu wollen. Nichts zieht mich in die Ecken und Kanten, nichts reizt mich, noch einmal um die nächste Kurve zu gehen. Lust habe ich allerdings auf die Oper und das Theater, denn ich weiß, dass dort sehr fähige Menschen „arbeiten“.

Was war an der Stadt Chemnitz wohl anders, als sie noch Karl-Marx-Stadt hieß? Bewirkt so eine Umbenennung etwas in den Menschen, die dort schon lange leben? Und wie geht es den Menschen in Lwiw, Kaliningrad oder St. Petersburg damit?

Chemnitz erinnert an alte Zeiten. Die Stadt ist übersichtlich. Die Menschen treffen sich auf der Straße wieder und erkennen sich. Ein Plausch hier, ein Pläuschchen da. Ich denke an Katarina Witt und das Eiskunstlaufen. Als ich ein Kind war, war dies meine Verbindung zu Karl-Marx-Stadt. Natürlich wusste ich nicht, wo sich die Stadt befindet, aber ich dachte mir, dass es dort ziemlich kalt sein müsste, damit Kati das ganze Jahr über auf dem Eis üben konnte, auf ihren Kufen diese magischen Pirouetten zu drehen.

An einem Weihnachtsfest lagen auch Schlittschuhe für mich unter dem Baum. Aber ich hatte einfach nie ein gutes Gefühl für Gleichgewicht. Und geduldig war ich schon gar nicht. So blieb der Traum vom Eiskunstlauf ein theoretischer. Gut so. Ansonsten hätte ich mir wahrscheinlich ziemlich schnell alle Knochen gebrochen.

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BREMEN (Oktober 2022)

Diese kleine Reisegeschichte fällt aus dem Rahmen. Kein Osten. Dennoch. Noch nie dagewesen. Und Ausnahmen sind ja da, um gemacht zu werden.

Zum ersten Mal war ich in Bremen. Gerufen hatten mich die Damen und Herren vom Signum Quartett, um Fotos von ihnen zu machen. Also setzte ich mich in den Zug und fuhr hinauf in den Norden. Ich buchte mir eine Kajüte auf einem Hausboot, das auf der Weser in der Nähe des ehemaligen Kellogg’s-Geländes lag. Das letzte Mal schlief ich in Warschau auf einem Hausboot auf der Weichsel. Ich liebe das! Mein Aufenthalt verlief wunderbar. Beide Nächte ruhte ich tief und fest. Dies kann allerdings auch daran gelegen haben, dass ich mit meinen Füßen ziemlich viel unterwegs war – sowohl für das Fotoshooting als auch zum Entdecken der Stadt der Bremer Stadtmusikanten.

Übrigens, immer wenn ich an Bremen denke, denke ich an Thomas Mann und die so zähen Buddenbrooks. Allerdings empfand ich die Stadt so gar nicht zäh. Im Gegenteil: eine tolle Stadt. Eine Stadt der Gegensätzlichkeit. Auf der einen Seite der Glanz der Villen und der alten BRD an den beiden Seiten der Weser, auf der anderen Seite die (Migrations-)Armut rund um den Hauptbahnhof.

Ich begegnete natürlich den Tierchen der Bremer Stadtmusikanten, dem Roland, der Schlachte, Loriot, dem guten Kaffee in der Theaterkantine, aber auch viel Symbolik, die ich aus der Westwerbung meiner Kindheit kannte: dem vergangenen Charme des Warenhandels über den Hafen. Beck’s. Melitta. Iglo. Mercedes.

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NAUMBURG (Oktober 2022)

Der Oktober, mein Geburtsmonat. 2015 traf ich eine Abmachung mit mir: An jedem kommenden Geburtstag wollte ich an einem für mich neuen Ort sein. 2022 hatte ich anderes geplant als ausgerechnet Naumburg. Aber das Leben kam dazwischen, die Emotionen kochten zwischenzeitlich ziemlich hoch, und so wurde Naumburg zu meinem Geburtstags-Notnagel. Ein schöner und ein ziemlich nachhallender Notnagel jedoch. Die Besitzerin des Hotels, das ich gebucht hatte, deckte sogar einen Geburtstagstisch für mich. Das Essen allerdings musste ich selbst mitbringen, denn meine Ankunft war zu spät für die Restaurants der kleinen Stadt und die Hotelküche.

Ich mochte die Stadt vom ersten Moment an. Allerdings waren die ersten Momente schon sehr dunkel. Die Stadt wirkte in dem künstlichen Licht der Laternen wie eine Filmkulisse – eine nächtliche Filmkulisse. Am nächsten Tag dann kam der ganze Glanz zum Vorschein: die rot-weißen Bleiglasfenster von Neo Rauch in der Elisabethkapelle des Naumburger Doms, die ich sehr schätze. Oder die Loggia des Herrn Friedrich im Nietzsche-Haus, das morgendliche Rührei auf dem Marktplatz zu Naumburg, das mittägliche Orgelkonzert in der Stadtkirche St. Wenzel oder die Fahrt mit der historischen Tram. Welch ein herrlich schönes Städtchen in der Oktobersonne!

Aber ich hatte auch eine herrliche Begleitung. Ein Mensch, der meinen Blick teilt und manchmal erweitert, wenn dies notwendig ist. Und so wurde aus einem Notnagel ein Highlight auf meiner Liste des Jahres.

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TOP-FIVE-MEINES-(OST)DEUTSCHEN-SOMMERS-UND HERBSTES (2022)

• 5: Zwickau
• 4: Eisenhüttenstadt
• 3: Bremen
• 2: Naumburg
• 1: Görlitz