Der Plan: Mit dem 9-Euro-Ticket all die Orte im Osten der Republik abfahren, die ich noch nie sah in meinem Leben, um die Besuche analog auf Filmmaterial festzuhalten, also den Status Quo dieser Plätze einzufrieren. Das 9-Euro-Ticket ist Geschichte. Mittlerweile nenne ich ein Deutschlandticket mein Eigen. Wenn die Sonne zwischen den Wolken durchschaut, es nicht regnet, ich Zeit habe und fotografische Lust verspüre, mache ich mich immer wieder auf den Weg. Meine Themen sind Brutalismus, sozialistische Überbleibsel, Mensch und Raum, Vergangenes, Vergilbtes, Totes, Skulpturen und alles, was meinen Geist und meine Ästhetik anspringen mag.

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HALLE (Saale) / HALLE NEUSTADT (Mai, Juni 2023, Juli 2024)

Als ich an der S-Bahn-Station ausstieg, um zum ersten Mal Halle-Neustadt zu besuchen, war ich schon verblüfft. Ungefähr 40 Minuten bin ich gefahren von meinem Zuhause in Leipzig – und stand nun in einer ziemlich anderen Welt. Gekommen war ich, um ein Mosaik-Kunstwerk-Überbleibsel aus der DDR zu fotografieren, doch jetzt stand ich erstmal da, in der ehemaligen Vorzeige-Planstadt der DDR: HaNeu. Konzipiert als Wohnstadt für die Chemiearbeiter von Leuna und Buna, Typenbauten in industrieller Plattenbauweise, ursprünglich für 90.000 Einwohner geplant, strikte Funktionstrennung (Wohnen, Arbeiten, Freizeit), großzügige Grünflächen zwischen den sogenannten Wohnkomplexen.

Bis 1990 war Halle-Neustadt eigenständig. Am 6. Mai 1990 wurde Halle-Neustadt in die Stadt Halle (Saale) eingemeindet. Die Bevölkerungszahl hat sich halbiert und lag im März 2024 bei 47.270 Einwohnern. Bis zur Wende gab es 14 polytechnische Oberschulen (POS, 10 Klassen), zwei erweiterte Oberschulen (EOS, 12 Klassen), 42 Kindergärten, ein Kulturzentrum mit Bibliothek, die Kaufhalle „Kaufhaus am Treff“, eine Poliklinik und Ambulatorien.

Das Wohnen in HaNeu war Luxus, die Wohnungen modern, mit Fernheizung und eigenem Fernheizwerk, modernen Müllschluckern und unterirdischen Versorgungstunneln. In Halle (Saale) dagegen waren viele Wohnungen „nur“ mit Ofenheizung ausgestattet und verfielen. Die Plattenbauten in HaNeu hatten unterschiedliche Höhen, es gab sie mit 5 bis 15 Stockwerken. Halle-Neustadt war die Stadt der kurzen Wege: Alles war zu Fuß oder mit dem öffentlichen Verkehr erreichbar. Es gab eine strikte Trennung von Fußgängern und Verkehr. Breite Fußgängerwege, Plätze und Brücken ermöglichten eine sichere Fortbewegung. Ein zentrales Element der Stadt war die Magistrale, eine breite Hauptstraße, die Halle-Neustadt in Ost-West-Richtung durchzog und als wichtige Verkehrsader diente. Schichtbusse brachten die Arbeiter und Arbeiterinnen zu den Chemiewerken. Es gab Jugendklubs, die Eisdiele „Tutti Frutti“, ein Planetarium, eine Schwimmhalle, zahlreiche Brunnenanlagen und Skulpturen zur Chemiearbeit.

Manchmal musste ich in meinem Leben ziemlich weit reisen, um ein Gefühl von Kulturwechsel zu verspüren. Nun reichte es, mich ins Nachbarbundesland, in die Nachbargroßstadt zu bewegen – einfach mit der S-Bahn. Halle-Neustadt ist schon ’ne Hausnummer. Gute Platten, schlechte Platten. Dazwischen jede Menge Menschen, die meisten von ihnen alt oder migrantisch. Die Sonne schien an meinem ersten Besuchstag. Die Mandelbäumchen blühten. Zwischen dem Beton bewegten sich lebendige Wesen hin und her.

Halle an der Saale – die Stadt neben Leipzig. Oft hatte ich sie nicht besucht, aus meinem Leipzig-Leben heraus. Händel wurde hier geboren, die Saale schlängelt sich durch die Stadt. Die Kunsthochschule Burg Giebichenstein zieht Künstlerinnen und die Jugend an – und mittlerweile wohl auch die billigeren Mieten. Noch immer habe ich kein Gefühl für die Stadt, obwohl ich in den letzten Jahren auch ohne „Fotoauftrag“ ab und an in ihr abtauchte…

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BITTERFELD-WOLFEN (Juni, Juli 2023, Juni 2024)

Bitterfeld-Wolfen (2007 aus fünf eigenständigen Orten zusammengewürfelt) ist eine Stadt im südlichen Sachsen-Anhalt. Die Stadt liegt an der Mulde und am Goitzschesee, einem rekultivierten Tagebau, etwa 30 Kilometer von Leipzig entfernt. Bitterfeld-Wolfen war ein bedeutendes Industriezentrum der DDR, insbesondere für die chemische Industrie (Leuna-Werke, Buna-Werke). Wolfen wurde durch die Filmfabrik Wolfen bekannt, die 1909 gegründet wurde. In Wolfen wurde einer der ersten praktikablen Farbfilme entwickelt und die Kult-Marke ORWO geboren. Nach der Wiedervereinigung prägten der Ausverkauf und die Demontage der Filmfabrik, Arbeitslosigkeit und Wegzug die Stadt. Wolfen war einst einer der größten Produktionsstandorte für Film- und Fotomaterial.

Heute hat Bitterfeld-Wolfen etwa 37.000 Einwohner (Stand: 2024). Die Zahl ist in den letzten Jahren stark gesunken.

In Bitterfeld-Wolfen ist die AfD mit Abstand stärkste Kraft. DER SPIEGEL Nr. 2/2025 schreibt:
„Die Stadt ist eine AfD-Hochburg. Die Partei saß hier schon im Stadtrat, da war Miroslav Klose noch Nationalstürmer und Wolfgang Schäuble Bundesfinanzminister. Heute, ein Jahrzehnt später, stellt die Rechtsaußenpartei den Vorsitzenden und die größte Fraktion im Stadtrat, die Chefs mehrerer Ausschüsse, zwei Ortsbürgermeister. Bei der Kommunalwahl im Juni vergangenen Jahres hat sie ihren Stimmenanteil fast verdoppelt, auf rund 36 Prozent. Die AfD hat mehr Sitze als CDU, SPD, Linke und Grüne zusammen. Gemeinsam mit dem stramm rechten Bündnis »Pro Bitterfeld-Wolfen« verfügt sie nun über eine absolute Mehrheit. Die AfD in Sachsen-Anhalt wird vom Verfassungsschutz als »gesichert rechtsextrem« eingestuft. Doch das hält viele offensichtlich nicht davon ab, den Rechtsextremen ihre Stimme zu geben.“

Zweimal besuchte ich die Stadt etwas ausführlicher. Zweimal fand gerade das wunderbare OSTEN-Festival statt. 2023 widmete sich das Festival ausführlich der Geschichte der Film- und Faserproduktion im Stadtteil Wolfen. Im Mittelpunkt stand eine Ausstellung mit über 50 Kunstwerken, die an verschiedenen Orten wie der ehemaligen Feuerwache, dem Gelände der früheren Film- und Faserfabrik, dem Industrie- und Filmmuseum und dem ehemaligen Kino präsentiert wurden. Fragen, die das Festival stellte: Was bedeutet Osten? Was ist spezifisch, was international? Was lässt sich aus der Vergangenheit lernen? Welche Ideen und Visionen gibt es für die Zukunft?

Mich beeindruckte vor allem mein erster Besuch im Filmmuseum, in der ehemaligen Filmfabrik. Jeder und jede, der oder die sich für Fotografie interessiert, muss dort unbedingt eine Führung machen. So viel Neues habe ich erfahren – über die Entstehung von analogem Filmmaterial, aber auch über den Standort Wolfen und überhaupt die Geschichte des Films und die Produktion in der DDR. Spannend hoch zwei.

Später, auf dem Festivalgelände (dem alten Kino von Wolfen), sprachen zwei ehemalige Arbeiterinnen über ihre Anstellung bei ORWO, und eine ukrainische Künstlerin beeindruckte mich mit ihrer Performance über Svema, den bedeutendsten Hersteller von fotografischen Filmen in der Sowjetunion. Ihre Mutter war dort angestellt und musste mit der Schwangerschaft aufhören, dort zu arbeiten. Wolfen und Schostka (wo Svema angesiedelt war, eine Stadt im Nordosten der Ukraine) waren verbunden durch ihre Anlagen, die nach dem Krieg von Deutschland in die Sowjetunion als Entschädigung gingen. Spannende Geschichtsnachhilfe während des Festivals also.

Das Festival 2024 fand in der alten Feuerwache statt. Ein herrlicher Festivalort mit Wasserrutsche und einer Menge teilnehmender Künstlerinnen.

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LEUNA / MERSEBURG (September 2023, August 2024)

Ich nahm die Straßenbahn Linie 5, von Halle (Saale) Hauptbahnhof nach Bad Dürrenberg. 30 Kilometer lang ist die gesamte Strecke – eine Überland-Straßenbahn und eine der längsten ihrer Art weltweit. Auf dieser Linie gibt es einige interessante Stopps: Schkopau mit den ehemaligen Buna-Werken, Merseburg, Leuna mit dem imposanten Haupttor im klassizistischen Stil von 1916 und der überdimensionalen Tram-Haltestelle, an der bei meiner Ankunft rein gar nichts los war.

Besonders faszinierend ist der Plastik-Park mit Skulpturen aus vergangenen Zeiten. Diese Sammlung entstand bereits zu DDR-Zeiten und ist heute eine Außenstelle des Kunstmuseums Moritzburg in Halle (Saale). Der Park ist wirklich beeindruckend – ich hatte das Glück, ihn fast für mich allein zu haben. Es war heiß, kaum ein Mensch war unterwegs, und ich konnte mich ganz in Ruhe den verschiedenen Kunstwerken widmen. Sie wirken in diesem Park, als hätte man sie irgendwo am Ende der Welt aufgestellt. Leuna – ein Ende der Welt. Irgendwie passt das ja auch.

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WEIßENFELS (Juli, September 2023), inklusive Hohenmölsen, Bad Dürrenberg, Zeitz, Zangenberg

Zweimal war ich im Jahr 2023 in Weißenfels. Einmal am Anfang und einmal am Ende des Sommers. Nach meinem ersten Besuch schrieb ich folgenden Text:

Wir müssen reden. Über den Körper. Wieder einmal. In dieser Woche war ich fotografisch unterwegs im sachsen-anhaltinischen Land. Davon abgesehen, dass ich miterleben musste, wie rechtspolitisch verbotene Sprüche öffentlich skandiert wurden, begegnete ich zwei Körpern unterschiedlichen Geschlechts, unterschiedlichen Alters, mit sehr unterschiedlichen Lebenserfahrungen und vor allem: mit ziemlich unterschiedlichen Auffassungen von Akzeptanz, Selbstbewusstsein und Kommunikation mit dem Gegenüber. Von ihnen MUSS ich erzählen.

Sie, 66, groß, rote Finger- und Fußnägel, Locken & Rock, hübsch geschminkt, Bauchansatz, wartend auf einen Zug. Er, 20, knielange Hose, schwarzes bedrucktes Shirt, große Ketten um den Hals, Käppi, mittelgroß, mitteldick, geritzte Unterarme, auch wartend auf einen Zug. Sie traf ich am Anfang meines Tages. Ihn am Ende.

Als ich mit IHR ins Gespräch kam, wollte sie, dass ich schätze, wie alt sie wohl sei. Ich schätzte. Sie fragte: „Und wie alt sind Sie? Bestimmt jünger als ich, aber Übergewicht macht ja auch immer älter.“ Mit festem Blick schaute ich sie an und sagte mit ruhiger Stimme: „Sie sind so alt wie meine Mutter und übrigens auch so unverschämt!“ Sie konnte meine Reaktion nicht verstehen. In dem Moment kam mein Auftraggeber, um mich abzuholen. Ein kleiner Mann mit einem Kugelbauch. Auch er verstand die Situation nicht gleich. Er erwartete ja nur mich. Mittlerweile hatte ich mich ein wenig in Rage „gefühlt“. Sie gab ihm höflich die Hand zur Begrüßung, schaute ihn an und sagte: „Aber ein hübsches Gesicht hat sie ja.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich habe ein tolles Gesicht, einen tollen Körper, bin sehr klug und kann großartig fotografieren.“ Auf einmal wurde sie ziemlich kleinlaut. Ging und sagte so etwas wie: „Ich habe heute etwas von Ihnen gelernt.“ Eine verkürzte Erzählung natürlich. Zwischendurch kamen auch die typischen Anti-Dicksein-Argumente mit der gefährdeten Gesundheit beispielsweise.

ER war so höflich. Wie wir ins Gespräch kamen, daran kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Ich weiß jedoch noch, dass mir seine Narben als Erstes auffielen. Noch am Gleis fragte er mich, ob wir uns im Zug nach Leipzig zusammensetzen könnten. Taten wir. Schnell sprach er über seine Mobbing-Erfahrungen in der Kleinstadt. Wie er deswegen die Schule wechseln musste. „Dicke Schwuchtel“ war eine der harmloseren Schimpfwörter. Damals fing er an, sich zu ritzen. Er wurde in eine Klinik eingewiesen.

Er fragte mich nach meinen Diskriminierungserfahrungen. Ich antwortete ehrlich, dass es in meinem Leben wenige (und wenn, dann vor allem durch meine Mutter) davon gab. Und wenn diese auftauchen, tangieren sie mich mittlerweile persönlich wenig; ich begreife sie schnell als politisches Potenzial, um zu reagieren. Er lächelte mich an: „Sie haben es gut!“ Ja, das habe ich. Denn ich darf meinen Körper auch als Geschenk betrachten und als Aufgabe. Körper-Kunst, Aufklärung. Kampf.

Auch er ein Kämpfer. Wie Gundermann fährt er einen Bagger im Tagebau, wie mein Auftraggeber des Tages spielt er Orgel in der Stadtkirche einer kleinen Gemeinde (ein netter Zufall des Tages). Er ist Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr und musste schon einmal ein Kind aus der Frontscheibe herausschneiden: „Die unappetitlichen Einzelheiten erspare ich Ihnen lieber!“ Er kümmert sich um die Menschen, die ihn umgeben. Als der Zug in Leipzig hielt, wollte ein Zuggast nicht aufwachen (zu viel Alkohol vielleicht?), er überprüfte erst einmal seinen Puls und klopfte ihn anschließend sanft wach. Ich beobachtete das Geschehen und war ganz beseelt von diesem Menschen.