Antje Kröger | Fotokünstlerin

Breslau – Expressway (Dezember 2019)

Posted by on Feb 18 2020, in Mensch, Welt

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Text: Tobias Crain

Zwischen den Jahren. Eine so schöne Bezeichnung für diese Tage vom 27. bis zum 31. Dezember, 13:45 Uhr, Zeit zur Einkehr, zum Abschalten, Runterkommen nach den immer turbulenter werdenden Weihnachtstagen. Tage im Zwielicht, das Dunkel braucht lange, um das Licht ans Licht kommen zu lassen, gibt nie den Tag auf, klammert sich erbittert in den Stunden fest, die der Helligkeit gehören sollten und zwingt das Licht so zeitig wie das restliche Jahr nicht mehr in die Knie. Kann sich die Sonne die Wolken vom Leib halten, fehlt ihr die Kraft in hohem Bogen über unsere Welt zu ziehen, sie kraucht nur am Himmel entlang und sticht den Menschen in die Augen, als wenn sie ihre Wut über das zu kräftige Dunkel dieser Zeit an schwächeren Unbeteiligten auslassen müsste. Zwiezeit sozusagen. Warum währenddessen nicht einen geruhsamen Ausflug unternehmen? Gar nicht weit entfernt sich ein kleines Ziel setzen, kleine Entdeckungen machen, sich treiben lassen in fremder Umgebung, hier- und dahin geschoben von den Strudeln des Flusses der Zeit der Tage. So ähnlich hatte ich mir das gedacht.

Warum dann eine 4-stündige Fahrt in ein fremdes Land mit fremder Währung, mit Übernachtung in einer kurzfristig ohne Nennung von Gründen stornierten Unterkunft, mit Temperaturen um den Gefrierpunkt, ohne Handschuhe (vergessen, eben wegen jener Kurzfristigkeit der Aktion, und mit nur einem halbgaren Plan für die Zeit? „One Night in Breslau“ (And The World`s Your Oyster), für Bangkok fehlten die nötigen Impfungen, drum ersetzten wir die eine Perle der Auster mit einer anderen. Bangkok raus, Breslau rein. (Nun bitte nicht denken, Murray Head dominierte die Fahrt mit seinem Song, Hoheit Nick Cave hatte die Hoheit über das CD-Fach im Radio.)

Vor einer Reise in die niederschlesische Stadt von 1000 Jahren kann sich die Idee ausbilden, in den Stunden dort die berüchtigten Zimtläden vorzufinden. Davon war hinter Weihnachtsmarktbuden und Restaurants nicht viel zu erkennen. Sogar das für sich selbst so stark den Rynek ausmachende alte Rathaus im gotische Stil wurde hinter einer großen Pyramide der Lächerlichkeit preisgegeben. Diese Verunglimpfung widerfuhr dem ganzen mächtig-prächtigen Platz um das Gebäude herum. Weihnachtsmarkt-Zeit, Kitsch-Zeit, bei uns wie auch in Polen. Und, hier noch eine Empfehlung, ganz von mir persönlich, sollte man auf der Flucht vor den Deutschen sein und keinen Bock mehr auf deutsche Sprache haben, dann bleibt Wrocław fern. Es fühlte sich an, als hätten wir wieder 1939 (upps), so viele Deutsche tummelten sich in der Stadt. An jeder Ecke drangen bekannte Worte und Satzfetzen an unsere Ohren, rempelte man jemanden an, war es klüger, sich auf deutsch zu entschuldigen, das verstand der andere Passant eher als eine englische Floskel. Auf der Rückfahrt dachte ich auch schon, ich wäre auf einer Autobahn im Herzen Deutschlands unterwegs, fast ausschließlich Kennzeichen mit dickem D unter dem europäischen Sternenkreis zogen an uns vorüber. Kann aber auch nur an der Zeit zwischen den Jahren gelegen haben. Aber Ferienzeit ist bei uns Krauts ja Landflucht-Zeit und wir bevölkern Nachbar- und ferne Länder über, so gut es nur geht und noch nicht von Annexion gesprochen werden kann. Also, Augen auf bei der Länderwahl nächstes Mal.

Zu verdenken ist ein Besuch Breslaus grundsätzlich keinesfalls. Ehemalige Kulturhauptstadt Europas, die Breslauer Zwerge (gerüchteweise sollen etwa bis zu 600 kleine Mützenträger über die ganze Stadt verteilt sein), die alten Gebäude, die vorbeiziehende Oder, die Restaurants und Cafés. Das alles ist so reizend angerichtet, dass es ein Sternekoch auf weißem Teller nicht besser gelänge. Mit Zimtläden hat das freilich nichts mehr zu tun, eher mit Zucker, industriell hergestelltem Zucker, ausgelegt das alles auf Tourismus, der für mein Befinden eine Nummer zu groß ist. Ein anderes Bild könnte sich aber ergeben, wenn Breslau neben den Hauptreisezeiten besucht wird. Ich bin stark gewillt, das zu glauben.

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Breslau – Expressway (Dezember 2019)
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Breslau – Expressway (Dezember 2019)

Den ganz eigenen Charme der Stadt fanden wir abseits des Stadtkerns auf einem Hinterhof, in den uns etwas rabenartiges durch eine Toreinfahrt lockte. Das Tier am Ende des Durchgangs zum Hof rief uns frohlockend zu, näher zu kommen und einzutreten in die kleine Menagerie, die es für uns aufgestellt hatte. Bestehend aus Tauben, einem ganzen Schwarm davon, Müll, einer halben Halde davon, Menschen, die im Müll kramten, zwei davon, Roma, eine als Mütterchen getarnte quarzende Prinzessin davon. Leider brachte es das Rabenartige nicht zuwege alle (oder wenigstens zwei) Protagonisten(-Gruppen) zusammentreffen und so etwas Neues entstehen zu lassen. So fiel die ganze Aufmerksamkeit der handelnden Personen auf uns, so wurden wir nacheinander von der Roma-Prinzessin um Zigaretten und anschließend um Feuer angebettelt, beides war nicht in unserem Besitz, so bettelte sie uns um Geld an, auch das gab es von uns nicht, also verfluchte sie uns. (Na klar…) Da sie aber, wie an ihren rosafarbenen Schuhen zu erkennen, keine wirkliche Hexe, sondern eine eingemummelte Prinzessin war, ist der Fluch recht wirkungslos verpufft. Ich hatte einen Knoten in der Zunge, das fiel aber nicht weiter auf, denn bei Kälte werden meine Lippen schnell steif und ich spreche eh wie Knoten in der Zunge. Dann kamen die Tauben, anders, wir kamen in die Tauben. Ein Schwarm von bestimmt über hundert Individuen nahm eine nicht geringe Fläche des Hofes ein. Und hier muss ich mich verbessern, zwei Dinge kamen doch zueinander, die Tauben und der Müll. Sie bedingen sich sogar, ohne Müll keine Taube und nochmal muss ich mich verbessern, denn ohne Müll auch kein Müllsucherpärchen. Aber erstmal die Tauben, sie nahmen uns auf wie Brüder/Schwestern. Ließen uns ganz unbeeindruckt in ihre Mitte marschieren und uns dort frei bewegen. Sehr schöne Charakterstudien ließen sich machen wie jedes Tier sein eigenes Wesen hatte. Entspanntheit, Argwohn und Misstrauen, Freundlichkeit und Neugier, alles war dabei. Schreckhaftigkeit auch, mindestens einmal, denn die pflanzten sie uns auch kurzfristig ein, indem der ganze Schwarm in Nullkommanichts aufflog und eine große Runde um das ganze Areal flog. Was auch immer sie so erschreckt hat, wir kamen nicht dahinter, alles war ruhig und niemand hatte Hektik verbreitet. Weil es wohl nur falscher Alarm war, kamen sie auch bald alle wieder und setzten sich erneut in unsere Nähe. Wir gehörten wieder zum Schwarm.

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Zu guter Letzt kam das freundliche Müllsucherpaar. Es hatte den Anschein. sie konnten mit Moneten nichts anfangen, denn sie stiegen lieber kopfüber in die Tonnen, anstatt uns nach Geld zu fragen und posierten noch ganz freundlich für Fotos, noch immer ohne die Hand aufzuhalten. Müllsucher mit Anstand… Breslau hat sie.

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Unsere Kreise wurden allmählich größer und wir verließen den Hof und den Block, der ihn umgab und wandelten die Straßen der normalen Bürger Breslaus entlang, die Richtung wechselnd, nur wenn uns etwas Spannendes den Weg wies.

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In der aktuell von uns eingeschlagenen Richtung wurden Menschen auf der Straße ein rares Gut. Warum wurde, kurz nachdem es uns auffiel, klar, Sackgasse. Ursprünglich jedenfalls. Nun war dort, wo es anno dazumal nicht weiterging, ein riesiges Stück Zaun flöten gegangen. (Böse Theorie: Metallschrott? Hey, Stereotype müssen bedient werden, sonst sterben sie aus. Will ja keiner.) Wir konnten so auf ein altes Firmengelände spazieren. Alte Baracken, Müll, riesige Haufen an Sand, Kies und Gestein, alte Gehwegplatten, Gleise, ein ausgeschlachtetes Auto, kurz, der beste Kinderspielplatz der Welt. Das Areal erwies sich als riesig und gehörte zur polnischen Bahn, je weiter wir vordrangen, desto lebhafter wurde es. Die Gleise wurden mehr, die Menschen auch, Züge und Hänger, Baracken, die einen halbwegs belebten Eindruck machten. An uns störte sich keiner, so zogen wir einfach weiter bis alte Lagerhallen, die jetzt als Party Locations zu dienen scheinen und ein handmade Skaterplatz uns den einzigen möglichen Weg zu einem großen offenem Tor zeigten, durch das wir das Gelände schlußendlich verließen.

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Damit befanden wir uns offiziell schon wieder auf dem Heimweg und der startete gleich mit einem Halt. Die Synagoge sollte noch von uns beehrt werden. Goya und Dali lenkten mit einer gemeinsamen Ausstellung vorerst ab. Die 80 Radierungen „Los Caprichos“ von Goya wurden gezeigt und ihnen gegenübergestellt wurden die 80 Versionen, die Dali übermalte und umdeutete. Viel schöner als diese spezielle Ausstellung war aber das Haus an sich, Muzeum Teatru. Ein wahres Kleinod am Rande des neuen musikalischen Forums und dem kahlen kalten Platz davor. Zimtläden? Hier ist einer davon. Hauptsächlich ist es dem Regisseur und dem Gründer des Breslauer Pantomimentheaters Henryk Tomaszewski gewidmet. Er war Schöpfer des Gruppentheaters für Pantomime, eine damals neue Theaterform. Im Erdgeschoss wird der Besucher von großformatigen Fotografien mit Szenen aus Proben und Vorführungen der Werke Tomaszewskis auf die magische Welt des Theaters eingestimmt. Den Besuchern, denen das Foyer dafür noch nicht gereicht hat. Auf den Fotos kommt Tomaszewski sehr großherzig und väterlich rüber. Teilweise auch weich, nicht im Sinne von schwach, sondern von nachgiebig fordernd, wenn es so etwas gibt. Gar nicht so, wie man sich Theaterregisseure sonst vorstellt und wie es vielen nachgesagt wird. Es scheint, als wenn Tomaszewski mit seinen Darstellern die Stücke ausarbeitet und sie hört, nicht dass alles nach seinen konkreten Vorstellungen umgesetzt werden müsse. Bestätigt wird dieser Eindruck in der ersten Etage, in der die Wohnung von Tomaszewski samt Arbeitszimmer nachgestellt ist. Und wenn nicht Zimtladen, dann wenigstens Zimtzimmer, denn hier findet sich die Magie, die die Zimtläden früher ausgestrahlt haben müssen. Liebevoll ausgestattet mit Teilen seiner Möbel, Kunstwerken, Büchern und Utensilien seiner Arbeit, aber auch mit Stücken seiner großen Leidenschaft – dem Sammeln von Spielzeug. Es gibt so viel zu sehen, dass eine Aufzählung nur unvollständig sein kann. Ob man möchte oder nicht, es entwickeln sich einfach starke Sympathien für diesen Mann.Spätestens wenn das Fotoalbum mit den original Fotografien aus seinem Leben durchgeblättert wird. Schau genau und du entdeckst Slaps- und Dramatik auf etlichen Seiten. Erwähnen möchte ich noch die Plakate, die das Treppenhaus schmücken. Theaterveranstaltungsplakate, eines schöner als das andere und den Fahrstuhl eigentlich obsolet machend.

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Breslau – Expressway (Dezember 2019)
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Die Synagoge mit dem schönen Namen „Zum weißen Storch“ war das nächste Ziel auf unserem Abmarsch. Nachdem wir sie gefunden hatten, standen wir vor einem Schild, auf dem uns auf Englisch mitgeteilt wurde, dass die Tür heute geschlossen bleibt. Wie so oft, kam dann einer, der wusste das nicht, klinkte und trat ein. Der eine war genau genommen ein älteres Doppelpärchen aus Deutschland und dem Englischen offensichtlich nicht so mächtig. Sechs Menschen taten also das, was sie nicht tun sollten und warfen einen Blick in die Synagoge, in der zwei Männer gerade Stühle aufbauten und rückten. Die störten sich gar nicht an den Eindringlingen und gaben in aller Ruhe auf polnisch Auskunft, warum heute geschlossen war (wohl eine Tanzveranstaltung). Wobei ich mir gut vorstellen kann, dass die Worte, die unter dem vom Schmauchen vergilbten einstmals weißen Schnauzer des älteren der Beiden hervorkauderwelschten nicht ganz der Wahrheit entsprachen. Dafür schauten die wachen Augen während des Sprechens zu verschmitzt. Als wir uns dem Ausgang schon wieder näherten, kam ein Mensch, der wohl dafür zu sorgen hatte, dass niemand das Haus betrat, mit Kaffeetasse in der Hand, V auf der Stirn und einem Schwall Worte im Mund, die uns klar machen sollten: „Raus hier!“ angelaufen, ließ keine andere Deutung zu, als diese Räumlichkeiten zu verlassen. Das taten wir und gingen gar nicht weit, denn auf dem Hof der Synagoge führte ein kleines Türchen in einen wirklichen Zimtladen. Diesmal in Form eines Cafés. Ganz dunkel war es darin, teils von den tief liegenden Fenstern, teils wegen der dicken Staubschicht auf ihnen, teils wegen der schweren dunklen alten zusammengestückelten Einrichtung. Eine heiße (und zähflüssige) Schokolade später verließen wir den Ort, diesmal durch die Vordertür und vielleicht ist das ein weiteres Geheimnis der Zimtläden, denn nach geöffnet sah vom Haupteingang nichts aus…

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Etwas Verdauliches in den Mägen war das Einzige was jetzt noch fehlte. Am ersten Tag kamen wir an einem Restaurant namens „Konspira“ vorbei, verschmähten es aber, weil die Menschen davor warteten und wir schon ein Piroggenrestaurant ausgemacht hatten, welches mehr Sättigung versprach (fragt nicht warum, aber so war es). Auch diesmal mussten wir warten, aber nicht lange und so genossen wir in diesem thematisch auf den Widerstand gegen die kommunistische Okkupierung hinweisenden Gasthaus die letzten Happen auf polnischem Boden. Gespickt mit Devotionalien aus der Zeit des eisernen Vorhangs kamen Erinnerungen auf an Gegenstände, die so oder so ähnlich auch zu unserem damaligen Alltag gehörten. Thema Widerstand aufgreifend, sprang immer wieder ein Gast am Nebentisch auf, um die Menschen, die (auch an diesem Tag) am Eingang warteten, lautstark und energisch darauf hinzuweisen, die Tür geschlossen zu halten. Das war ein etwa 43-jähriger Mann, der es geschafft hat im Leben. Vermutlich Chef eines kleinen Unternehmens, auf jeden Fall aber ein Job mit Weisungsbefugnis. Gesteppte Daunenjacke, hohe Stirn, drahtig, ruckeliges Englisch, deutsch. Leider. Seine Tochter schämte sich sichtlich und seiner Frau war es auch unangenehm. Aber auch die Gruppe Inder, die einen Tisch weiter besetzte, waren mehr auf Widerstand gebürstet, die Bedienung hatte alle Hände voll zu tun. Themenrestaurant durch und durch also, bis hin zu den Gästen. Wir reihten uns dann doch lieber wieder zwischen die vielen deutschen Heimkehrer auf der Autobahn ein. In Reih und Glied, Widerstand ist ja nicht jedem eingepflanzt. Am Himmel übten sich die Farben im Widerstand, blau kämpfte mit rosa, keine von beiden wollte der anderen die Vorherrschaft über den Abendhimmel lassen und dann kam sie wieder die Dunkelheit, die am Ende doch immer obsiegt. In Grau und Braun kam sie in raumgreifenden Schüben, trennte die beiden Streithähne indem sie sie nacheinander verschluckte und auflöste. Ob sie morgen wieder zum Zuge kommen, das weiß heute noch keiner, nicht mal die Dunkelheit selber. Zimtmomente am Firmament beim Grenzübertritt.

Die Zimtläden, die gibt es noch. In ganz verschiedenen Ausführungen. In Anzahl sicher nicht mehr so häufig. Vom Aussterben bedroht sind sie nicht, nur lassen sie sich nicht mehr ganz so einfach finden wie vor hundert Jahren.

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