Antje Kröger | Fotokünstlerin

Unwucht

Posted by on Mrz 17 2023, in Mensch

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Es hatte noch einmal geschneit. Und das in der Mitte des Märzes. Dabei war ihr Herz doch bereits auf Frühling und dessen Duft eingestellt. Stattdessen also weiße Flocken en masse, die Wege und Straßen glatt puderten. Das Geräusch des Schneeschiebers weckte sie. Sie sah durch das Fenster diesen Himmel, der klar machte, it’s wintertime. Genau wie der Himmel klar machen konnte, dort ist ein großes Wasser. Nun also Winterlandschaft. Sie saß auf dem Klo, schob die Jalousie nach oben (sie war die Einzige in der Familie, die das tat) und schaute den Menschen nach, die mit Schirmchen umher rutschten. It was time for winterdancing. Sie dachte über ihre wintertime-Garderobe nach. Natürlich hatte sie diese, aber nicht dabei. Sie war mit Turnschuhen und Jacke in die Heimat gekommen. Keine Stiefel, keinen Schal, keine Mütze, keine Handschuhe, dafür Rock und Strumpfhose. Sie nahm es gelassen. Es würde schon gehen. Schlittenfahrt mit dem Babyneffchen – ging. Schneemann bauen – ging. Im Schnee rum stolpern, ging. Sich auf die Fresse legen, ging. Sie stürzte kopfüber in den feuchten Winterstaub. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, stand eine Alte, sich festkrallend an ihrem Rollator, lachte und fragte, ob sie helfen könne. Ja genau. Als ob die Gebrechliche in der Lage gewesen wäre, ihren dicken Körper aufzuheben . Sie kämpfte sich alleine aus ihrem Chaos wieder hinauf. Dies sah übrigens ganz genauso aus wie beim Babyneffchen. Erst auf alle viere und dann hoch. Ihre Schwester stand neben ihr, zusammen gackerten sie, weil sie dies fast immer taten, wenn sie zusammen waren. So ein Sturz konnte ihrem Gegacker nichts anhaben. Als sie in der Nacht von der Wohnung ihres Bruders „nach Hause“ liefen, stellte die Schwester fest: „Das kommt von deinem unwuchtigen Gehen.“ Sie verstand, sie habe ein unwuchtiges Gen.


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Unwucht

Er möchte einen Film drehen über ihr kunstvolles Leben. Deshalb wollte er wissen, was sie gerade bewegt in ihrem Leben. Sie sprach in das Telefon, Minute um Minute. So viel Bewegung in ihrem Leben derzeit. Das war eine Menge Futter. Er wählte: Mutter und Körper. Natürlich. Die altbewährten Themen. Gehen immer. Liegen auf der Hand. Aber gut. Sie wollte nicht so streng sein. Körper und Mutter. Mutterkörper. Körpermutter. Schmerzkörper. Schmerzmutter. Mutterschmerz. Muttermutter. Körperkörper.

Sie saß vor dem Ofen. Ihr gegenüber rauchte ein anderer Körper, eine andere Seele. Ihr Marmor. Sie kannten sich schon ein wenig, doch nun begaben sie sich zusammen auf neues Terrain. Sie redeten über ihre Mütter. Können Töchter und Mütter jemals sich gleichberechtigt in die Augen schauen? Ist das Verhältnis von Mutter und Kind immer eine Unwucht, muss dies denn so sein? Oh. Sie dankte in diesem Augenblick ihrer Schwester für dieses wunderschöne Wörtchen. Und eignete es sich an für ihre Kunst.

Körper. Mutter. Unwucht.

Sie erzählten sich gegenseitig von ihren Müttern. Den Verhältnissen. Schwierig, emotions-beladen, nie egal, nie banal, immer volle Wucht voraus. Kinder-Mutter. Erwachsenen-Mutter. Heute-Mutter. Früher-Mutter. Hunger. Schmerz. Aushalten. Bockigkeit. Scham. Der nackte Körper. Die Bewertung. Die Disziplin. Die Bevormundung. Die Sehnsucht. Mutti. Traurigkeit. Trauer.


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