Antje Kröger | Fotokünstlerin

Ich-Zerfall

Posted by on Mrz 10 2023, in Mensch

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Ich-Zerfall: Das Wort zog mich an. So richtig in seinen Bann. Vom ersten Moment an. Ich las und recherchierte über die 1920er Jahre und begegnete schnell dem Expressionismus und der Psychoanalyse. Ich-Zerfall. Im damaligen Verständnis. Zum einen die Darstellung des ICHs im Zentrum eines Kunstwerkes, damit also das Sein des Künstlers, der Künstlerin im Mittelpunkt des Schaffens, mit aller Kraft, allen Abgründen, meist realitätsuntreu. Zum anderen das verlorene Selbstwertgefühl und Trauma durch Krieg und soziale Missstände, eine geistige Erneuerung einer erstarrten, korrupten und heuchlerischen Gesellschaft.

Wie zerfällt ein Ich? Was ist ein Ich überhaupt? Bin ich immer ICH? Oder ist das Ich nicht so und so ein fluides Geschöpf, dass in Form und Inhalt nie gleich bleibt? In wieviele Ichs kann so ein ganzes Ich denn so zerfallen? Wer oder was ist ICH?

Ich mag den Zerfall. Ich möchte immer wieder zerfallen, um mich neu zusammenzubauen. Bau auf, bau auf. Ich mag den Zerfall. Der morbide Charme der Vergängnis. Ich bin eine Baumeisterin. Was interessiert mich das Ich von gestern. Manchmal bin ich im Rausch, verschwommene Beziehung zum Ich. Manchmal bin ich klar, in Linie. Glasklar. Dazwischen viele Grautöne. Immer bewusst über das Sein mit allen Ecken, Kanten, Rundungen. Den Ambivalenzen. Der Fieberkurve, dem Fiebertraume. Dem richtig oder falsch. Dem links oder rechts. Was kann langweiliger sein als ein immer gleiches Ich?

Ein gesellschaftlicher Ich-Zerfall begegnete mir in der letzten Woche in den (sozialen) Medien. Die Filter-basierte Foto-Veränderung des Äußeren durch Künstliche Intelligenz. Dafür lud ich mir TikTok auf das Handy. Auf dieser Plattform streunert ein KI-basierter Effekt umher, der das Ich per Video mutieren lässt, zu etwas, das sich zeitgenössisches Schönheitsideal nennt (kardashianlike). Seitenverkehrt. Hohe Wangenknochen. Bügelglatte Haut. Dicke Lippen. Schminke. Alles in 3D. Alles ziemlich echt wirkend (auf den ersten, oberflächlichen Blick). Ich bin Mitte 40, nun sehe ich aus wie aufgehübscht mit 30. Warum verschwindet mein Doppelkinn eigentlich nicht? What’s wrong with you world? Welche Beziehung kann ein junger Mensch, der sich viele viele Stunden am Tag in den sozialen Medien bewegt und sich damit identifiziert, zu sich aufbauen mit so falschem Spiegel vorm Gesicht? Muss nicht erst eine Ich-Beziehung stattfinden, bevor Ich zerfallen kann? Oder kann ein ICH nur innerlich zerfallen und gar nicht äußerlich?


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Ich-Zerfall
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Ich-Zerfall

Sonett

Wie schien die alte Feindschaft nun besiegelt
In gültigem Vertrag: ein Lächeln hing
Geheimnislos von einem Lächelnden; verriegelt
Schloß sich der Mund dem Schweigenden, es fing

Die Rede sich in anmutvollem Spiel
Verschlungen wandelnd, schwesterlich vertraut:
Wie war den Wandernden verwandte Ziel
Wie sicher schien das (alte) Haus gebaut:

Da traf ein Blick aus alten Feindschaftstagen:
Nachtdunkler Weg erstand ins Unbekannte
Aus sanften Worten strömten wilde Klagen.

Gesprochenes erlosch ins Nie-Genannte…

. . .
  (nicht vollendet)

Maria Luise Weissmann, 1923

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