Gedenkstätte Buchenwald – JEDEM DAS SEINE
Posted by Antje Kröger Photographie on Jan 24 2024, in Mensch, Welt
Alle Fotografien sind auf analogem 35mm-Film entstanden. Alle Filme habe ich selbst entwickelt. Manche von ihnen durften vorher ein Bad in einer Filmsuppe nehmen.
Ich befinde mich knapp 500 Meter über dem Meeresspiegel, sieben Kilometer von Weimar, etwa 130 Kilometer von Leipzig und 286 Kilometer von Berlin entfernt, in Buchenwald. Es ist Anfang Januar 2024, die Temperaturen liegen zwischen minus 15 und minus 10 Grad Celsius. Mit dem Zug bin ich nach Weimar gefahren. Vom Hauptbahnhof bringt Bus Nummer 6 Menschen zur Gedenkstätte. Als der Bus an der Haltestelle ankommt, muss ich kurz schlucken, denn das große Hinweisschild auf dem Bus zeigt an: BUCHENWALD. Schwarz auf Weiß. Ich fühle mich kurz wie vor ein paar Jahren in Lublin, als der Bus am ehemaligen Konzentrationslager Majdanek vorbeifuhr. Damals dachte ich mir noch, dass jeden Tag Menschen in diesem Bus sitzen, zur Arbeit fahren und wieder heimwärts, immer an diesem schrecklichen Ort vorbei. In Weimar frage ich mich: Was macht es mit einem Menschen, der im Stadtteil Buchenwald lebt oder jeden Tag diesen Bus mit der Nummer 6 nimmt?
Ich stapfe durch den Schnee auf dem Ettersberg. Der Ettersberg, der schon Goethe zum poetischen und amourösen Verweilen einlud. Die Sonne scheint tief, der Himmel ist blau, die Luft eisig. Ich muss aufpassen mit meinen Schritten, damit ich nicht falle. Im Bus fuhren mit mir vier Menschen. Auch sie hatten sich diesen Tag ausgesucht, um die Gedenkstätte Buchenwald zu besuchen. Auf einer Informationstafel steht: „Nehmen Sie sich mindestens 90 Minuten Zeit!“ Ich bleibe fast sechs Stunden, warte 50 Minuten an einer offenen Haltestelle an der Straße auf den letzten Bus zurück zum Bahnhof, habe abends eine Frostbeule an einem Oberschenkel und friere die nächsten Tage unaufhörlich.
Ich bin das erste Mal in Buchenwald. Viele Schülerinnen der DDR machten Ausflüge nach Thüringen, um Buchenwald „nachzuspüren“. Auch meine Mutter und viele Verwandte besuchten damals die Gedenkstätte. In meiner Schulzeit gab es diese KZ-Ausflüge nicht (mehr). Heute sind sie anscheinend wieder beliebt. Ich begegne in Buchenwald mehreren Schulklassen an diesem kalten Wintertag. Sie haben gelbe Rosen oder andere Blumen dabei, um der Toten und Misshandelten zu gedenken. Schon vor meinem Gedenkstätten-Besuch wusste ich viel über Buchenwald, die Insassen, den Lagerkommandanten Koch und dessen Frau Ilse, über die Steinbrüche, die Rüstungsindustrie und einiges mehr. Aber ich war noch nie live und in Farbe dort.
Sowieso sehr spät in meinem Leben war ich erst bereit, mir die ehemaligen Konzentrationslager oder andere Orte des Schmerzes (Srebrenica, Yad Vashem) anzuschauen. Immer dachte ich, meine Seele könne dies nicht verkraften. Mit all meinem Wissen heute und dem Hinschauen zur aktuellen politischen Lage weltweit, denke ich, Kinder sollten an die geschichtliche Vergangenheit herangeführt werden, immer mit pädagogischem Blick und Einordnung. Aber sie sollen unbedingt wissen, wozu der Mensch fähig ist, welche Gräuel er begehen kann.
Dazu fällt mir mein Gespräch mit dem Pförtner am „Jedem das Seine“-Tor ein. Ein Baum von einem Mann, Anfang 50, raucht seine Mittagszigarette und lässt sich von mir Löcher in den Bauch fragen. Übrigens sehe ich ihn später noch einmal im Bus von der Gedenkstätte nach Weimar sitzen. Eintausend Menschen besuchten im Schnitt an einem Tag die Gedenkstätte. Okay. An diesem krassen Wintertag sind es deutlich weniger. Meist kämen Schulklassen oder andere jugendliche Gruppen aus der ganzen Welt. Er erzählt mir, dass das Interesse bei den Mädchen und Jungen mäßig sei. Je weiter weg sie von Deutschland kämen, desto weniger zeigten sie deutliches Interesse oder seien beeindruckt von diesem Ort.
Von meiner Mutter weiß ich, dass sie von ihrem Buchenwaldbesuch ziemlich verstört nach Hause kam. Sie berichtete von Schrumpfköpfen und Lampenschirmen aus angeblicher Menschenhaut. All dies ist mittlerweile nicht mehr zu sehen in der Gedenkstätte, auch NS-Uniformen werden nicht mehr gezeigt (damit soll verhindert werden, dass Rechtsradikale Buchenwald besuchen, um „ihre Vorbilder“ zu feiern). Auch viele Effekten sind in Buchenwald nicht mehr ausgestellt. Ich weiß noch, wie mich in Auschwitz die vielen Brillen und Koffer und in Majdanek ganz viele Schuhe der Ermordeten wirklich sprachlos zurückließen. Darauf wird in der Gedenkstätte Buchenwald mit Absicht verzichtet. Ich bin mir nicht sicher, ob dies so richtig ist. Ja, ich mochte meinen Tag in Buchenwald, aber ehrlich gesagt, hat er mich nicht so nachhaltig beeindruckt, wie viele andere Orte des Schmerzes, die ich bisher besuchte.
Die Gedenkstätte Buchenwald ist eine Gedenkstätte, die an das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald erinnert. Das Konzentrationslager Buchenwald wurde während des Zweiten Weltkriegs von den Nationalsozialisten betrieben. Es wurde im Juli 1937 errichtet. Buchenwald war eines der größten Konzentrationslager auf deutschem Boden und diente als Arbeits- und Vernichtungslager. Viele Häftlinge wurden Opfer von Zwangsarbeit, Misshandlungen, medizinischen Experimenten und Exekutionen.
Die Gedenkstätte Buchenwald wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eingerichtet, um an die Schreckenstaten und das Leid zu erinnern, welches im KZ Buchenwald stattgefunden hat. Die Gedenkstätte umfasst auch ein Museum, das Dokumente, Fotos und persönliche Gegenstände der ehemaligen Häftlinge ausstellt. Der Ort dient als Mahnmal gegen das Vergessen und als Ort der Reflexion.
Das für 8.000 Gefangene im „Mustergau Thüringen“ konzipierte Lager überzog mit seinen 60 Außenlagern Thüringen wie ein Netz und riss nahezu 250.000 Menschen aus Leben und Gesellschaft, davon etwa 56.000 endgültig. Die Häftlinge, gekennzeichnet als „Politische“, „Emigranten“, „Bibelforscher“, „Asoziale“, „Berufsverbrecher“, „Homosexuelle“, „Juden“ und „Ausländer“, unterlagen der Willkür eines organisierten Terrorsystems, das sie ihrer Individualität, ihrer Würde, ihres Menschseins, ihres Lebens beraubte. Die Vereinnahmung, Umdeutung und Pervertierung eines sicher geglaubten humanistischen Wertesystems durch die NS-Ideologie fand in Buchenwald einen unabweisbaren Höhepunkt: „Zwischen uns und Goethe liegt Buchenwald“.
https://lernort-weimar.de/stolpersteine/konzentrationslager-buchenwald/
Am 11. April 1945 befreiten amerikanische Truppen das Konzentrationslager Buchenwald. Während der Befreiung wurde die Uhr am Haupttor angehalten, welche seitdem 15:15 Uhr anzeigt.
Konzentrationslager Buchenwald (Buchenwald Concentration Camp) 1937-1945
400.000 m² Häftlingslager (400.000 m² inmates camp)
3.500 m elektrischer Stacheldrahtzaun (3,500 m of electric barbed wire)
139 Außenlager (139 subcamps)
277.800 Häftlinge (277.800 inmates)
30.000 Minderjährige (30,000 minors)
28.230 Frauen (28,230 women)
249.570 Männer (249,570 men)
aus über 50 Ländern (from more than 50 countries)
56.000 Tote (56,000 dead)
1.944 Männer, Frauen und Kinder mit Todestransporten nach Auschwitz (1,944 men, women and children sent to Auschwitz on death transports)
Februar 1938: 2.728 Häftlinge (February 1938: 2,728 inmates)
Februar 1945: 112.050 Häftlinge (February 1945: 112,050 inmates)
Alter der Häftlinge: 2 bis 86 Jahre (Inmate age range: 2 to 86 years)
An meinem Tag in Buchenwald schließen sich Kreise. Ein erster Kreis: Meine erste Schule, noch in der DDR, hieß „Ernst Thälmann Oberschule“. Schon früh setzte ich mich mit Teddy, wie alle Schülerinnen ihn nannten, auseinander, politisch und menschlich. Eines meiner liebsten Kinderbücher erzählt die Lebensgeschichte von Ernst Thälmann.
Ernst Thälmann, 16.4.1886 (Hamburg, Deutsches Reich) – 18.8.1944 (KZ Buchenwald)
Ernst Thälmann wurde in der Nacht vom 17. auf den 18. August 1944 vom Zuchthaus Bautzen (insgesamt war er 11 Jahre in Einzelhaft) in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht und von SS-Männern beim Betreten des Krematoriums erschossen. Auch heute noch hängt dort eine Gedenktafel. Die Verknüpfung von Thälmann und Buchenwald war in der DDR ziemlich wichtig für das Gedenken. Das ist heute so nicht mehr der Fall.
Ein zweiter Kreis schließt sich für mich an diesem Ort. „JEDEM DAS SEINE.“ Ich kenne das eiserne Lagertor mit der Inschrift natürlich schon ziemlich lange von Fotos und aus Filmen. Ästhetisch bin ich beeindruckt. Ich öffne und schließe die Tür mehrmals, gehe hindurch und schaue fotografisch von allen Seiten genau hin. Dabei beobachte ich das Licht beim Hindurchscheinen und Menschen während des Durchschreitens. Mir gefällt der Schriftzug.
Als ich zwei Stunden später das Museum der Gedenkstätte nicht nur zum Aufwärmen, sondern auch zur Erkundung nutze, fällt mir schnell eine Tafel mit Bildern von Buchenwald-Insassen auf. Zwei Menschen stechen mir bildlich sofort ins Auge: Ein junger Sinto mit grünem Hemd und die Malerei eines Künstlers. Zuerst betrachte ich die gesamte Ausstellung und komme dann zurück zur Tafel. Dort höre ich mir alle Informationen an, die zu diesem Künstler präsentiert werden. Sein Name: Franz Ehrlich. Sein Vermächtnis: Er gestaltete den Schriftzug des Haupttores von Buchenwald.
Franz Ehrlich, ein Kommunist, saß deswegen in Buchenwald in Haft. Seit 1923, da ist es wieder, mein Jahresthema 2023, interessierte er sich für das Bauhaus und war seit 1927 Schüler am Bauhaus. Franz Ehrlich wurde in Leipzig geboren, genauer gesagt in Leipzig Reudnitz, dem Ort, wo ich bereits mein ganzes Erwachsensein verbracht habe. Welch ein schöner Zufall und welch ein leiser Widerstand, denn die Nationalsozialisten verabscheuten das Bauhaus. Dennoch prangt ihr Slogan nicht in Frakturschrift oder Sütterlin, sondern in der Linie eines Bauhausschülers, mit langgezogenen, abgerundeten Buchstaben, dem „M“ und „N“, die aussehen, als seien sie kleingeschrieben, und dem „E“ mit seinem kurzen Strich.
Franz Ehrlich überlebte Buchenwald und den Krieg, trat in die SED ein und war bis zu seinem Tod Designer und Architekt. Er ist und war zeitlebens umstritten, galt als ambivalenter Mensch. Einerseits entwarf er den Schriftzug des Buchenwalder Tores als Protest, ähnlich wie er zuvor als Kommunist Flugblätter verteilte, andererseits kollaborierte er mit den Nazis. In der DDR wurde er vom MfS angeworben und als IM geführt. Ein äußerst facettenreicher Mensch. Ich bin froh, ihn auf meiner Buchenwaldreise kennengelernt zu haben.
Auf der Südseite des Ettersberges entstand als Nationaldenkmal der DDR das Mahnmal Buchenwald. Diese monumentale Anlage setzt sich aus verschiedenen Komponenten zusammen: dem steinernen Tor, einer steinernen Freitreppe, sieben Stelen, die den Widerstand der Häftlinge darstellen, der Straße der Nationen mit 18 Pylonen, Feuerschalen und den Namen von 18 ausgewählten Nationen, aus denen Menschen nach Buchenwald deportiert wurden. Weiterhin gibt es drei Ring-Massengräber (3.000 Tote), eine Figurengruppe (von Fritz Cremer, die die Selbstbefreiung der Häftlinge zeigt) und den Glockenturm, ehemals Turm der Freiheit, mit der sieben Tonnen schweren Buchenwald-Glocke, die stündlich geschlagen wird.
Vom ehemaligen Lager Buchenwald laufe ich erst auf der Blutstraße, dann auf einem verschneiten Weg parallel zur Hauptstraße in Richtung des Glockenturmes. Die Sonne wird bald untergehen, ich muss mich beeilen. Angekommen, laufe ich durch das steinerne Tor hindurch und schaue hinab, die Sicht ist diesig. Ich erinnere mich an den rauchenden Pförtner, der mir erzählt hatte, dass mensch bei guter Sicht nach Weimar und Erfurt blicken könne. Das war heute nicht möglich.
Langsam steige ich die Treppen hinab. Ganz allein bin ich. Kaum Spuren im Schnee. Die Treppen sind rutschig. Deshalb forme ich jeden Schritt in Zeitlupe. Vor jeder der sieben Stelen bleibe ich stehen und betrachte sie. Die Geschichten, die darauf erzählt werden, sind traurig, aber stark. Ich bemerke, wie die Sonne immer tiefer sinkt und die Kälte noch mehr in meine Knochen zieht. Der Tag ist in jedem Fall eine körperliche Erfahrung.
Schließlich komme ich am ersten Ringgrab an, anschließend gehe ich die Straße der Nation entlang. Der Glockenturm thront über mir, seine Glocke tönt. Irgendwann erreiche ich endlich die Treppe, die wieder nach oben führt. Ich steige langsam empor. Manchmal muss ich pausieren, mein Körper ist sehr erschöpft. Irgendwann, als ich so dastehe, schaue ich nach oben und erschrecke. Die Figurengruppe. Erst auf der Mitte der Treppe wird sie für mich sichtbar. Im ersten Augenblick „sah“ ich eine Menschengruppe.
Die letzten Stufen nehme ich zähen Schrittes und komme an der großen Plastik an, eine Frau kommt mir entgegen, sie steigt die Treppen hinab in die untergehende Sonne und die Einsamkeit. Bei mir ist nun der Ofen aus. Ich schleppe meinen Körper zur nahe gelegenen Bushaltestelle. Der nächste Bus kommt in 50 Minuten. Das Warten als Nahtoderfahrung. Ich halte durch, sitze irgendwann im Zug, dann im Bahnhofscafé und wieder im Zug nach Leipzig.
Werbung
NÄCHSTER FOTOWORKSHOP
Comments
Trackbacks and Pingbacks
-
[…] Viel konnte Teddy nicht von Weimar sehen. Am 17. August 1944 brachten ihn die Nazis aus dem Gefängnis in Bautzen auf den Ettersberg bei Weimar. Im Konzentrations- und Vernichtungslager Buchenwald wurde ihm am 18. August in den Rücken geschossen. Der linke Politiker starb, er wurde 60 Jahre alt. Seine Statue ermahnt die Menschen auch heute noch nicht weit entfernt vom Hauptbahnhof daran, welche Gräuel vor 80 Jahren in der unmittelbaren Nähe passierten, nämlich 56.000 Tote. Männer, Frauen, Kinder. (mehr Buchenwald …) […]
Michael Mahlke
Hallo ich finde den Beitrag sehr ansprechend, gerade auch durch die persönliche Schilderung. Ich war auch schon mehrfach dort und muß sagen, eigentlich gibt es da ja so gut wie nichts zu fotografieren. Daher finde ich die Fotos und ihre Gestaltung umso besser. Ich fand damals diese Mischung der Region so pikant. Weimar und Buchenwald, Triumph und Tragödie liegen eng beieinander. Die Dörfer dazwischen erzählen was von Enge, Weite und Vergessen aber auch Verstecken. Klasse gemacht!
Antje Kröger Photographie
lieber michael. ich danke dir sehr für deine zeilen. ich denke, jeder ort dieser welt ist fotografierbar. ich wollte schon in der weihnachtszeit dorthin, weil ich die vorstellung gut fand, die weihnachtsvorzeit dazu zu nutzen, in die geschichte zurückzuschauen. aber das licht war nie einladend. ich denke, ich dokumentiere in meiner fotografie wenig, sondern interpretiere themen, daswegen ist recherche und beschäftigung mit themen für mich so elementar. liebst!