Israel & Palästina (Mai 2015)
Posted by Antje Kröger Photographie on Jun 02 2015, in Mensch, Welt
Seitdem ich aus Israel zurück bin, treffe ich fast jeden Tag Menschen, die mir ihre Geschichten rund um diesen Ort erzählen. Auf einmal erkennen wir uns, wir haben eine sehr energetische Gemeinsamkeit, aus den unterschiedlichsten Gründen waren wir am Ort der vermeintlichen Schöpfung, in einer Gegend, die so emotional aufgeladen ist, dass es einfach schwer ist, dort Normalität zu spüren & zu leben, für jeden, ob Besucher, Gläubiger, Pilger, Suchender, Bewohner, Soldat, Mann, Frau, Kind …
Ich bin nicht klassisch gläubig (so als DDR-Kind), ich reise niemals, um des Reisens willen. Es gibt Gründe, immer. Auch wenn sie für diese Reise nicht so ganz einfach zu kategorisieren sind. Aber vielleicht so: Auf der einen Seite brauchte ich Impulse und Luft. Ich hatte geliebt und gekämpft, um letztendlich zum Wissen zu gelangen, dass Menschen sich manchmal nicht gut tun, selbst, wenn sie sich darum bemühen. Außerdem schwächte mich die Selbstständigkeit mit all ihren Anforderungen an mich, mein Strahlen versiegte mehr und mehr und ich machte mir Sorgen um meine Gesundheit. Auf der anderen Seite beschäftigte ich mich seitdem ich ein kleines Mädchen war mit dem Holocaust, las Anne Franks Tagebuch mehr als zehn Mal, verschlang alles zu diesem Thema mit Augen und Ohren. Später im Studium spezialisierte ich mich auf das Judentum: die Religion, das Volk & die Kultur. Ich schrieb über das jüdische Schtetl in Osteuropa und forschte über den Heimatbegriff der Bewohner. Irgendwann las ich Bücher über die orthodoxen Juden in Antwerpen und New York und unternahm Reisen auf deren Spuren. Auf einmal aber geriet das Thema in den Dornröschenschlaf. Sehr lange. Andere Themen wollten bearbeitet werden, zum Schluss so persönliche und existenzielle, dass eine Reise nach Israel schon Anfang 2015 in meinem Kopf herumspukte.
Was aber kann man sich von einem Ort erhoffen, den man nicht kennt, der einem Angst macht, der fern ist und augenscheinlich auch erst einmal nur ein Ort? Atem, Impuls, Orientierung & Wahrhaftigkeit. Alles so große Worte. Aber genau das waren meine Erwartungen und um es schon vorweg zu nehmen, alle wurden erfüllt. Ich durfte in meinen Reise-Rucksack so viele Erlebnisse packen wie noch auf keiner anderen Reise in meinem Leben. Ich hab‘ so viele Emotionen gespürt, so viele wunderbare Menschen getroffen, so kritisch und unkritisch beobachtet, so viel hinterfragt und so viele kleine Momente der Verzauberung erlebt. An einem so schwierigen Ort so viel Ehrlichkeit & Wahrhaftigkeit zu erleben, war schon besonders und hat es erleichtert, auch die schweren Themen anzuschauen und mit ihnen umzugehen.
Zum ersten Mal war ich in meinem Leben fotografisch sehr leicht bepackt. Ich hatte eine Leica von Paul Ripke dabei und von meinem Freund Tosh eine Fujifilm X100S. Danke dafür, ich fand es verdammt gut, dass beide Kameras so leicht waren, und ich deswegen so gern mit ihnen unterwegs war.
Jerusalem
Jerusalem ist eine der ältesten Städte der Welt. Wie viel hier schon geliebt, gehasst, geboren, getötet, um sie gekämpft, verloren, geglaubt, gelacht oder geweint wurde. In jeder Ritze dieser Stadt stecken Emotionen und gleichzeitig schiebt sich eine Art Leichtigkeit hindurch, immer wieder, so dass ich wusste: Hier bin ich richtig. Hier wird auf den Punkt gelebt. Vorsicht ja, Rücksicht soweit es die Emotionen zulassen auch, aber Sicherheit nein, die gibt es nicht. Genau das ließ mich zum ersten Mal tief durchatmen. Diese verdammte Sicherheit, nach der wir jeden Tag in unserer ersten Welt streben. Nichts ist oft so schnell und lapidar dahingesagt wie: Es wird alles wieder gut! Erstens muss es das nicht und zweitens sollte sich jeder von uns fragen, auf wessen Rücken wir unser ach so sicheres Dasein so oft verschwenden. Einschließlich mir, natürlich! Ich war verliebt, von der ersten Sekunde an. Kurz dachte ich, ich könne einen Religionskoller bekommen, mein Auge war überfordert ob der Uniformiertheit. Ambivalenz ist aber sehr angebracht an diesem Ort, Zerrissenheit auch.
Als ich mit dem Flugzeug in Tel Aviv ankam, überkam mich ein orientalisches Gefühl, aber nicht mehr. Es war sonnig & heiß. Bewegung und Superlative überall. Mein Gemeinschaftstaxi brachte mich über eine fast leere Autobahn nach Jerusalem und schwupps alles veränderte sich in mir, vielleicht nicht alles, aber eine Menge. Als ob jemand einen Schalter umlegt und sagt: Hier bist du nun, mach‘ was draus! Dennoch, ich war vorsichtig, meine ansteigende Überschwänglichkeit musste im Zaum gehalten werden, Vorsicht ist ja auch Sicherheit, oder? Was mir schnell auffiel: Jerusalem ist Stadt der Flaggen und der Katzen. Überall die weiß-blauen Fahnen, wirklich überall (als ich dann Jerusalem wieder verließ, wusste ich, dass dies nicht die Attitude einer Stadt war, sondern die eines ganzen Landes) und eine große Menge dieser wilden Katzentiere, die sich so sicher und meist auch elegant durch die Stadt bewegen und wie selbstverständlich zwischen Bewohner und Tourist unterscheiden können.
Fast jeden Tag flanierte ich über die Jaffa-Street und den Mahane Yehuda Markt, weil meine Herberge ganz in der Nähe war. Die Jaffa-Street ist ist sowas wie eine Einkaufsstraße und gesperrt für den Autoverkehr, seit 2011 fährt dort die Straßenbahn. Eine einzige sehr moderne Linie durchquert Jerusalem. Ich habe immer nur ein paar Stationen genommen, denn entspannt ist das Fahren nicht. Alle drängeln sich an den Türen (ich habe lange gebraucht, um zu kapieren, dass jeder ständig Angst vor Anschlägen hat und schnell wieder aus der Bahn hinaus will.) Ansonsten kann man sich auch gut zu Fuß durch die Stadt bewegen oder einen Bus nehmen. Das gestaltet sich aber auch oft nicht einfach, nirgendwo genaue Pläne. Einmal fragte ich einen Ultra-Orthodoxen im Bus nach der Haltestelle, er antwortete mir nicht, weil seine Religion es ihm untersagt, mit einer fremden Frau zu sprechen. Verrückte Welt!
An der Jaffa-Street befindet sich der Mahane Yehuda Markt, der größte und bekannteste Markt der Stadt. Das bunte Treiben ist faszinierend, aber spannender fand ich das Territorium rund um den Markt am Sabbat, alle Läden und Stände waren geschlossen und überall die bunten Graffitis zu sehen. Israel ist übrigens teuer. Man bezahlt für Lebensmittel im Schnitt das dreifache im Gegensatz zu Deutschland, wer aber nun denkt, die verdienen da so viel, der liegt leider auch falsch. Die Leute, mit denen ich so sprach, bekommen zwischen 900 und 1300 Euro im Monat. Es gibt Gegenden in Tel Aviv oder Jerusalem, wo die Mietkosten fast Ausmaße wie in London oder New York annehmen, Kindergeld liegt bei 30 Euro pro Monat.
Auf dem Mahane Yehuda Markt kann man dennoch auch mal ein Schnäppchen machen, kauft man das, was gerade Saison hat. Für mich waren dies Erdbeeren satt.
Jerusalemer Altstadt – Old City
Mein erster Besuch der Jerusalemer Altstadt war eine kleine eigenwillige Reise in meiner Reise. Die Altstadt von Jerusalem erstreckt sich auf einer Fläche von knapp einem Quadratkilometer. Sie wird von einer Stadtmauer umschlossen. Ich ließ alle Fremdenführer Fremdenführer sein und trat durch das Damaskustor in das Treiben aus Leben, Religion und Tourismus. Mein Ziel war die Klagemauer, wie ich sie erreichen sollte, war egal. Am Beginn der Reise traf ich Bob aus San Francisco. Er redete ’ne Menge über Sünder, sein Leben in Bayern und das Wetter in Kalifornien. Alles was er sagte, war klar und unklar zugleich. Auch er war natürlich auf der Suche, auch wenn er mir die ganze Zeit deutlich zu verstehen gab, dass der Glaube an Jesus (so habe ich es zumindest verstanden) die Erlösung sei. Ich bin nicht auf der Suche nach Erlösung oder einem derartigen Lebenszustand. Aber mir imponierte seine Stärke und Vehemenz. Er glaubte das, was er mir versuchte, nah zu bringen. Er berührte abwechselnd meine Stirn und mein Herz und ich erinnere mich immer noch gern an ihn, weil meine Reise an diesem Tag mit seiner Begegnung begann und auch endete. Denn als ich irgendwann abends vor der Klagemauer stand, sass er dort auch schon und lächelte mich an mit den Worten: Ich wusste, dass ich dich wiedertreffen würde!
Über verschlungene Wege landete ich nach Bob bei den Äthiopischen Mönchen, die auf dem Dach der Grabeskirche leben; kein einziger Tourist. Stille und Lächeln. Sie sprachen kein Englisch, waren aber ganz offen, die äthiopische Jüdin, der ich ein wenig bei ihrer Arbeit zuschauen durfte, freute sich darüber, dass ich Fotos von ihr machte und lachte, als sie sich auf dem kleinen Bildschirm entdeckte. Sie war pur und unbedarft, eine Kinderseele in einem alten Körper. Von dort nahm ich einen Durchschlupf, stand plötzlich inmitten von so vielen Menschen in der Grabeskirche. Ich wusste es anfangs nicht gleich, aber bei der Masse an Touristen war klar, dass dies ein bedeutsamer Ort sein musste. Ich war überfordert, geriet ins Strudeln, weil alles klagte und betete. In diesem Moment traf mich Anja aus Novosibirsk und erklärte mir, warum an diesem Ort tausendfach Kerzen angezündet und wieder gelöscht werden und warum so viele – vor allem orthodoxe Menschen – in einer Schlange stehen und auf etwas warten. Sie warteten darauf, das Grab von Jesus zu sehen-besuchen-fühlen. Für mich sehr schwer nachzuvollziehen. Ich spazierte durch die riesige Kirche. Es gab Ecken mit so fantastischem Licht, dass es mir egal war, wie viele hunderte Menschen um mich herum waren. In diesem meinem Lichtspaziergang sprach mich Joseph an. Das ist sein biblischer Name, seinen weltlich-arabischen Namen konnte ich mir nicht merken.
Josephs Eltern kamen aus Armenien nach Betlehem, wo er geboren wurde, so wie einst das Jesuskind. Noch belächelte ich unser Treffen. Joseph war Ende 40 oder Anfang 50, vielleicht auch 60. Ich weiß es nicht, es ist für diese Geschichte auch nicht wichtig! Ich saß auf einem kalten Kirchenstein neben ihm und beobachtete sein linkes Auge, aus der eine Träne kullerte. Im besten Englisch fragte er mich, woher ich käme und was mein Problem sei. Bähm. Einen Tag in Israel und nach Bob schon der zweite Mensch, der sich um mein Seelenheil kümmern wollte. Ich vertraute Joseph vom ersten Moment. Obwohl es in der Kirche so voll war, hatten wir unseren eignen Kommunikationsraum. Er stellte mir sehr konkrete Fragen mein Leben betreffend (die Geschichte bleibt zwischen Joseph und mir und ein paar Lieben) und wieder Bähm. Nach nicht mal 30 Minuten lag mein Seelen(un)heil vor ihm auf dem Kirchenboden und er hatte sofort eine Lösung für mich parat. Noch heute lächle ich über die nächsten Minuten. Er sagte mir konkret, was zu tun sei. Danach nahm er mich an die Hand, führte mich in eine Gruft, ganz dunkel. Famos, dass es an diesem so vollen Ort, ein Alleinsein gibt. In der Hand hatte er zwei Kerzen. Er sagte mir, dass ich meine Stirn gegen den Stein der Höhle drücken, dabei sprechen solle, zu Jesus und wenn ich nicht an ihn glaube, zu mir, meiner Seele und meiner Kraft. Nach ein paar für mich sehr aufwühlenden Minuten gab ich ihm ein Zeichen, dass ich fertig war, er drückte das Licht der Kerzen am Gestein aus und übergab sie mir mit den Worten: Nimm‘ sie mit nach Hause und denke an mich und unser Gespräch, wenn es dir nicht so gut geht und schöpfe daraus Kraft. Ich fragte Joseph, ob ich ihn fotografieren dürfe. Ich machte genau drei Fotos von ihm. Ich schaue sie fast jeden Tag an und denke über unsere Begegnung nach. Als ich mich von ihm verabschiedete, fragte er mich, wie alt ich sei. Ich sagte es ihm und er antwortete: I do not believe you, you look like a baby. Da musste ich lachen. Er sagte mir, dass ich genügend Zeit haben werde, mich um verschiedene Dinge meines Lebens zu kümmern und dass ich ihn immer in der Grabeskirche finden werde, das sei sein Platz, auch in einem oder in fünf Jahren.
Die Begegnung mit Joseph hinterließ Spuren. Danach setze ich mich unter einen Orangenbaum und zählte die Orangen. Als ich jünger war, wollte ich immer dort leben, wo Feigen oder Aprikosen an den Bäumen wachsen, ach, ich würde heute auch gerne dort leben, wo Orangen wie selbstverständlich an den Bäumen hängen. Ich spazierte weiter durch diese alte Stadt, die in verschiedene Viertel aufgeteilt ist: Christliches, Muslimisches, Armenisches, Jüdisches, Marokkanisches Viertel. Ich landete schnell im arabischen Viertel mit all‘ seinen Basaren, Geschäftsleuten, Kindern. So viele Kinder in den engen Gassen abseits der Touristenmeute. Ich traf eine große Truppe arabischer Jungs, die Murmel spielten. Anfangs bettelten sie mich an, als sie merkten, dass ich mich wirklich für ihr Spiel interessierte, ließen sie mich zuschauen und auch fotografieren. Egal, welche Volksgruppe man trifft in Israel/ im Westjordanland, schon die Allerkleinsten haben eine Floskel drauf: No photo! Während der ganzen Reise kam ich immer wieder an moralische Grenzen. Wann darf ich fotografieren? Wann respektiere ich den Wunsch, nicht fotografiert werden zu wollen? Wann setze ich mich über Grenzen hinweg? Mein fotografisches Herz blutete an der ein oder anderen Stelle. Es war eine zusätzliche Herausforderung, ein Foto auch mal nur mit den Augen zu machen, um es auf meiner eignen Festplatte abzuspeichern, als persönliche Erinnerung.
Ich verließ das arabische Viertel und tauchte in das jüdische Viertel ein. Verschiedene jüdische Schüler hatten gerade Hofpause und rannten über den Schulvorplatz, spielten Fangen. Ich schaute auch kurz in die Schulräume hinein, natürlich ohne Kamera. Ich wollte begreifen, dass hier wirklich Menschen leben, Kinder zur Schule gehen, normales Leben stattfindet und nicht alles Geschichts- und Religionsunterricht für die vielen Touristen war. Für mich fühlte es sich die ganze Zeit nach Theater und Bühne an. Nur das so selten die Lichter ausgeknipst werden. Die Menschen leben in der Altstadt Jerusalems mit so einer Selbstverständlichkeit ihr Leben, dass ich immer wieder beeindruckt war ob der Gleichgültigkeit gegenüber des Außen.
Später, gegen Abend, stand ich vor der Klagemauer. Die Mauer und der Platz davor sind zusammen eine Synagoge, deshalb werden Mann und Frau getrennt. Erst war ich traurig darüber, dass ich nicht dort sein konnte, wo die Pinguine mit ihren Schläfenlocken waren (die Israelis nennen die Ultra-Orthodoxen so!) Doch dann habe ich mich bei den Damen ganz wohl gefühlt. Mich berührte, wie tief sie in ihren Gebeten steckten, egal ob Ultraorthodoxe, Soldatin, Touristin… Ich stehe dem Judentum nahe durch meine Beschäftigung mit der Religion, dem Volk, den Traditionen, ihrer Geschichte, auch und besonders der europäisch/jüdischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Viel näher als irgendeiner anderen Religion. Mein Interesse ist kein Interesse der Schuld, sondern ein Interesse des Verständnisses und der Faszination. Mich interessieren die jiddische und hebräische Sprache genauso wie der religiöse Fanatismus. Eigentlich möchte ich keine politische Stellung beziehen in diesen Tagen und bemerke nun aber, dass mein Gefühl sagt: ICH MUSS. Ich glaube nicht, weiß aber auch, was Fanatismus in meinem Leben anrichtet, wenn ich liebe zum Beispiel. Dennoch hat niemand das Recht, so auf das Leben anderer Einfluss zu nehmen, geschweige denn über Leben und Tod zu entscheiden. Ich appelliere an die Menschlichkeit. Ein Nebeneinander mit so viel Emotion ist anstrengend und Arbeit. Ich habe mir an der Klagemauer Frieden gewünscht, für mich und für die Welt. Davon hab ich schon als kleines Mädchen geträumt!
Ultra-Orthodox-Jüdisches Leben in Jerusalem – Haredi Judaism
Vor meiner Reise hatte ich Kontakt zu der englischen Fotografin (Nicky), deren Bilderstrecke über Kinder in einem ultra-jüdisch-orthodoxen Viertel mich sehr beeindruckt hatte. Sie gab mir eine Menge Tipps, wie ich mich in den Vierteln verhalten sollte, um nicht zu sehr aufzufallen und vor allem, wie ich sicher fotografisch durch diese Viertel komme. Dennoch gab es die ein oder andere gefährliche Situation, weil eben beispielsweise nicht jedes Stück meiner Haut abgedeckt war und weil ich mich manchmal eben doch zu sehr in die eigne, abgeschottete Welt der Ultraorthodoxen vorwagte. Dazu ein paar mehr Worte unter dem Kapitel Lag baOmer.
Yad Vashem
Die Holocaust-Gedenkstätte zu besuchen, stand nie auf meinem Zettel. Das Schöne an einer Fotoreise so allein ist, dass man seine Pläne jeden Tag ändern kann. In meiner Herberge traf ich so viele hochspannende Menschen, dass ich mich schnell nicht mehr alleine treiben ließ, sondern mit anderen zusammen. Ondrej aus der Slovakei & Marlies aus den Niederlanden sind meine menschlichen Reisemitbringsel, denen ich immer noch emotional sehr verbunden bin! Mit Ondrej besuchte ich Yad Vashem. Mir war klar, dass es für mich dort kaum neue Informationen geben würde. Mit der bildlichen Wucht der Ausstellung über die Geschichte des Holocaust rechnete ich jedoch nicht, und sie ließ mich wieder straucheln, aber anders als die Tage davor. Ich war erneut schockiert über die menschlichen Abgründe und das Wissen darum. Ich schaute mir eine Menge Exponate nur oberflächlich an. Ich wollte meinen Kopf in diesem Moment, an diesem Ort, zu dieser Zeit nicht vergiften. Ich schaute nicht genau hin, weil ich Angst hatte, danach traurig zu sein, so trennte ich mich ein wenig von Ondrej und beschäftigte mich mit der Architektur und dem Licht an diesem Ort & entdeckte am Schluss dieses unglaubliche Spiegellabyrinth auf der Frauentoilette, in das ich am Ende dann auch Ondrej verschleppte. Ich wollte so gerne Fratzen schneiden an dem schweren Ort, aber meine englischen Ansagen an den Osteuropäer waren wohl nicht klar genug, so bin ich die einzige, die auf dem Spiegelfoto kindliche Gesichtszüge zeigt, das aber aus vollem Herzen.
Palästina
Mein Ausflug nach Palästina bleibt wahrscheinlich für immer unvergessen (dieser Trip ging natürlich auch über und durch israelisches Staatsgebiet). Aus den verschiedensten Gründen. Diese unglaublich schöne Landschaft, die wundersamen Berge und Wüsten, die ausgetrockneten Flüsse, die Palmenplantagen und Eselherden, die Beduinen mit ihren Ziegen (vieles sieht man leider nur aus dem Bus heraus.) Ein zweiter Grund: eine meiner Kameras ging verloren, mit all‘ meinen Fotos. Zwei Tage und einige Tränen später aber lag sie wieder an der Rezeption meiner Jerusalemer Herberge. Ich war im Land der Wunder und erlebte eines. Danke liebes Universum oder einfach nur dem Zufall.
Der Tag in Palästina war eindrücklich und schwer. Es war unendlich heiß und emotional. Orte wie das Grab von Arafat in Ramallah, die Geburtskirche in Betlehem oder das Kloster der Versuchung in Jericho berührten mich tief. Ich war mit einer Gruppe aus meiner Herberge unterwegs und irgendwann hörte ich den Vorwurf an unseren Guide, dass diese Tour viel zu religiös sei. Zugegebener Massen, die Gedanken kamen mir auch mal in den Kopf. Aber dieses Stück Land ist geprägt von dieser Geschichte. Alle schlagen sich deswegen die Köpfe ein, immer wieder und immer stärker. Ich finde es wichtig, sich zu bilden, auch religiös, ansonsten werden wir manche Konflikte eben niemals verstehen. Ob sie gelöst werden können, das steht auf einem anderen Blatt geschrieben.
Zwei Geschichten möchte ich erzählen von diesem Tag. Erste Geschichte: Der Eingang zur Geburtskirche in Betlehem ist nur 1,20 Meter hoch und man muss fast hindurch kriechen, um in das Innere der Kirche zu gelangen. Warum? Der niedrige Eingang sollte im Mittelalter verhindern, dass Ritter auf ihren Pferden in die Kirche ritten. Ich stellte mir aber vor, dass die Gläubigen schon viel früher auf ihren Kamelen zur Kirche kamen und das Getier draußen bleiben musste, weil es ansonsten alles niedergetrampelt hätte. Der Kamelbesitzer hätte sich ansonsten nicht von seinem Kamel getrennt, denn solch ein Tier war ja wertvoll. Also trennte man mit den niedrigen Türen den Herrn von seinem Kamel. Zweite Geschichte: Das Kloster der Versuchung oberhalb von Jericho in der judäischen Wüste, 350 Meter über dem Meeresspiegel wie ein Wespennest am Fels klebend brachte mich an meine körperlichen Grenzen. Eine österreichische Seilbahn fuhr uns hinauf bis zu einer steilen Treppe. Danach gings nur noch zu Fuß weiter. Unser Guide sagte: Die 100 steilen Treppen zum Kloster gehen wir gemeinsam, egal welcher Religion wir angehören oder ob wir gläubig sind. Alle schafften es, obwohl es ein harter Aufstieg war in dieser großen Hitze. Ich war stolz und glücklich und kaputt. Auf der Fahrt nach unten sangen alle in der Gondel den Song Jericho. Ach und beim Schreiben fällt mir dann doch noch ein dritter emotionaler Moment dieses Tages ein. Ich hätte nie gedacht, dass ich, nach der Berliner Mauer, an der ich schon als Kind mehr als einmal fragend stand, eines Tages wieder an einer Mauer stehen würde, die Menschen voneinander trennt und für so viel Leid sorgt.
Lag baOmer
Am 7. Mai 2015 feierten die Juden LagBaomer. Lag baOmer ist ein fröhliches Fest. Die verschiedenen einschränkenden Gebote der Trauerzeit, die für die 49 Tage zwischen Pessach und Schawuot gelten, sind an diesem Tage aufgehoben. Kinder und Erwachsene veranstalten Picknicks und versammeln sich um Lagerfeuer. Vor allem aber können an diesem Tag Hochzeiten durchgeführt werden und man darf sich wieder rasieren und sich auch die Haare schneiden lassen.
Ich wusste über dieses Fest nichts. An diesem Tag streifte ich mal wieder durch ein orthodoxes Viertel und versuchte zu fotografieren. Dabei beobachtete mich Soly. Soly hat als säkularer Jude eine Eisdiele inmitten eines solchen orthodoxen Viertels und eine weitere in Tel Aviv (leider schaffte ich es bei diesem Israel-Besuch nicht, einen längeren Aufenthalt dort einzuplanen, aber Soly weiß, dass ich dies bald nachholen werde.) Er interessierte sich sehr für mich als Deutsche, als Fotografin, wahrscheinlich auch als Frau, aber das blendete ich ein wenig aus. Er erklärte mir so viele Dinge, die ich in den vorangegangenen Tagen nicht verstanden hatte, beispielsweise erzählte er mir vom koscheren Handy. Das Handy von orthodoxen Juden darf nur telefonieren können, keine Fotofunktion, kein Internet, keine SMS. Oder ich erfuhr, warum die Orthodoxen so versunken vor Plakaten mit hebräischer Schrift standen. Ich dachte mir, wenn bei uns Plakate hängen, geht es meistens um Konzerte und Veranstaltungen, die man im Vorübergehen betrachtet. Aber nicht bei den Juden. Auf diesen Plakaten stehen alle Neuigkeiten aus dem Viertel, wer geboren und gestorben ist und anderen Informationen. Crazy. Dachte ich. Aber klar. Sie lassen das Internet und weltliche Presse soweit wie möglich nicht in ihr Leben und müssen ja doch informiert sein.
Als es dämmerte, erzählte Soly mir von diesem Fest, dass am Abend stattfinden würde. Er war derjenige, der mir Sicherheit gab zwischen den ganzen Ultraorthodoxen, die es nicht billigen, dass eine nicht-jüdische Frau bei diesem Fest dabei ist und schon gar nicht Fotos macht. Diese Feuer gibt es auch in weniger streng religiösen Gegenden, aber ich war in einer Ultrahochburg an diesem Abend.
Ich war dabei, als der Rabbi mit all seinen Schülern des Viertels um ein Feuer herumstand und sang. Zweimal versuchte er mich und meine Kamera zu vertreiben, beim zweiten Mal drückte ich tatsächlich ab, als er nur ein paar Zentimeter vor mir stand. Als fremde Frau durfte er mich nicht anschauen, aber sein Gefuchtel mit dem Gebetsbuch und seine Wut in meine Richtung ließen mich ängstlich werden. Ich hatte keine Angst vor dem Blitz, der mich gleich treffen würde. Aber der orthodoxe Mob hinter mir, das konnte auch ins Auge gehen. Ich hörte später, dass es vorkommt, dass Ziegelsteine gegen die Köpfe von Touristen geworfen werden, die aufdringlich erschienen. Mein Kopf war mir in diesem Moment heilig und ich hatte ja auch schon das Bild im Kasten.
Totes Meer – Dead Sea
Einfach nur schön ist der Blick auf das Tote Meer. Schon im Bus klebte ich die ganze Zeit an der Fensterscheibe und ersehnte mir den Stopp am See. Der Blick auf Jordanien machte mich sehnsüchtig. Das nächste Mal werde ich auch dorthin reisen und dieses nächste Mal darf nicht zu lange auf sich warten lassen!
Die öffentlichen Strände am Toten Meer unterscheiden sich kaum von unseren Stränden. Etwas ist vielleicht anders. Jeder, ja wirklich jeder, nimmt die Kamera mit ins Wasser. Ich möchte nicht wissen, wie vielen Kameras dies schon den Salztod gekostet hat. Das Herumtreiben auf dem Wasser ist nämlich unter Umständen nicht so einfach. Eine Japanerin in meinem Blickfeld machte eine elegante Rolle im Wasser. Natürlich wollte sie ihre Technik retten und nahm damit das Salzwasser in ihren Augen in Kauf. Nicht schön, was ihre lauten Hilferufe bewiesen und die Kamera war wahrscheinlich so oder so dahin.
Es war sehr heiß. Das Wasser war warm und salzig und am Strand legte ich mich unter eine Art Carport, weil die Sonne so brannte. Ich beobachtete die reichen Russinnen, Jüdinnen, die alle in den Luxus-Spa-Hotels eingecheckt hatten, um dreimal am Tag ins Tote Meer schwimmen zu gehen, weil es so gut für die Haut ist. Ich liebe Wasser, aber Salzwasser mochte ich nie und noch tagelang bildete ich mir ein, den Salzgeschmack im Mund zu haben und sowieso am ganzen Körper. Die Tage danach duschte ich zweimal, morgens und abends.
Sabbat – Schabbes – Shabbat
Der Sabbat ist im Judentum der siebte Wochentag, ein Ruhetag, an dem keine Arbeit verrichtet werden soll. Seine Einhaltung ist eines der Zehn Gebote. Er dauert von Sonnenuntergang am Freitag bis zum Eintritt der Dunkelheit am folgenden Samstag.
Freitagabend war ich an der Klagemauer und beobachtete die Gebete. Ich saß meist auf der großen Treppe und betrachtete die Gruppen, Familien, die zum Sabbat-Gebet an die Klagemauer kamen. Später lief ich, schon in der Dunkelheit, durch die alte Stadt und sah immer wieder Juden in ihrem Feiertagsrock zur Klagemauer stürmen. Irgendwann nahmen alle wieder den Rückweg in ihre Wohnviertel. Ich schloss mich diesem Weg an. Am Sabbat fahren keine öffentlichen Verkehrsmittel und die vielen orthodoxen Juden nahmen mich einfach mit, es war wie ein Sog. An diesem Tag hatte ich nicht wie sonst eine Strickjacke dabei. Das wurde mir schnell zum Verhängnis. Ich landete nämlich in Mea Shearim, DEM orthodoxen Viertel Jerusalems. Meine sichtbaren Ellenbogen waren ein Problem, schnell wurde mir das kommuniziert. Ich wusste aber nicht, welchen Weg ich gehen sollte. So suchte ich Hilfe bei zwei Frauen, die ein wenig außerhalb standen. Sie waren zwar auch orthodox, aber zu Besuch aus Großbritannien und buxsierten mich schnell Richtung Jaffa-Street. Am Sabbat sind die Orthodoxen noch strenger als an den anderen Tagen.
Ultraorthodoxe Juden machen bislang zwischen acht und zehn Prozent der israelischen Bevölkerung aus, aber es wird geschätzt, dass sich ihre Anzahl schon in 20 Jahren verdoppeln wird. In Jerusalem ist bereits jeder Dritte Einwohner ultraorthodox. Streng religiöse Familien haben im Schnitt sieben Kinder. In Israel herrscht die allgemeine Schulpflicht, allerdings haben ultraorthodoxe Schulen ihren eigenen Lehrplan, der alle säkularen Fächer ausschließt. Es bildet sich eine immer größer werdende Parallelwelt, die den Staat Israel nicht als ihren Staat anerkennt und sogar häufig mit Palästina sympathisiert und ihre Kinder auch nicht in die israelische Armee schicken will. Aber sie sitzen in der Regierung ihres Landes und haben großen Einfluss auf die Regierungsbildung, auch die sehr aktuelle. Was an den paar Fakten sichtbar wird, rollt auf Israel neben den außenpolitischen Problemen auch ein sehrsehr großes innenpolitisches Problem zu. Diese Parallelwelt muss schließlich finanziert werden. Kaum einer der orthodoxen Männer geht erwerbsmäßig arbeiten. Manche ihrer Frauen tun dies, aber bei weitem nicht alle, da sie mit Kindererziehung ausgelastet sind.
Zurück zum Sabbat. Es ist verrückt. In einer Großstadt zu sein an einem Samstag und alle Läden sind zu, wirklich allealle. Es fahren keine öffentlichen Verkehrsmittel und auf den Straßen ist es ruhiger als ruhig. Erst gegen Nachmittag kommen Menschen aus ihren Häusern und gehen spazieren, gegen Abend werden es immer mehr. Braucht man an diesem Tag ein Taxi, muss man auf die arabischen Taxis ausweichen, um beispielsweise nach Tel Aviv oder zum Flughafen zu kommen. Ich habe die Stille an diesem Tag genossen. Kein Straßenverkehr ist wirklich ein Segen.
Meine Zeit war so voll, ich hab so wenig gesehen und doch so viel erfahren. Davor, danach. Jetzt. Über mich, über die Welt, über die Liebe und das Leben. Ich komme wieder. Bald. Dann geht es in den Norden, in ein Kibbuz und nach Jordanien.
Danke an die Menschen, die mich aushalten und liebhaben! Für euch hab‘ ich das alles aufgeschrieben.
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[…] Istanbul had not really been on my cities-I-want-to-travel-list 2015. For autumn I had actually planned to go to Israel again to visit all the places I had missed on my travels in May. (Please click here to see my Israel portfolio.) […]
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[…] wollte ich wieder nach Israel, Orte besuchen, die ich im Mai nicht geschafft hatte zu sehen. (Meine Israelbilder findest Du hier.) Aber im Mai gab es vielleicht doch schon einen Hinweis auf einen baldigen Besuch in Istanbul. Mein […]
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[…] meiner Israel-Geschichte aus dem letzten Jahr erzählte ich bereits über meine besondere Verbindung zum Judentum. In Polen, Warschau, spann sich […]
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[…] die Lubliner Altstadt flanierte, dachte ich sofort an meine Spaziergänge und Erlebnisse in der Altstadt von Jerusalem. […]
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[…] ich lange keinen geführten touristischen Ausflug mehr gemacht. Ich erinnere mich an einen 2015 von Jerusalem in die palästinischen Gebiete. Ehrlicherweise bin ich keine Typin für solche Trips. Festgelegtes Programm und Routen, […]
Michael
Antje, sehr schöne Fotos. Sehr viele Erinnerungen … Danke für’s zeigen.
Werner
Wunderbar! Welche Wucht an Gefühlen in Worten und Bildern. Danke!
Lg,
Werner
ariane
Danke für diese eindrucksvollen Bilder und einblickgewährenden Texte!
Du könntest ein Büchlein daraus machen. Ich würde es kaufen!
Henning Wüst
Beeindruckend und tiefgründig! Danke Dir!
Andreas Haab
Deine Fotos zeigen grandiose Szenen. Tolle Auswahl und Eindrücke! Danke!
Karl Morlock
Wie so oft bei Deinen Bildern, gehen auch diese direkt ins Herz – Danke dafür!
Stanislav Kutac
merci hast du darüber und diesmal soviel geschrieben. ich war selbst vor 2 jahren in israel und hatte teils ähnliche empfindungen wie du sie beschreibst. es ist eine sehr emotionale gegend, geladen, spürbar unsicher, widersprüchlich und paradox nicht nur orthodox, voller gebote, verbote und eigensinn, ein schmelztiegel von kulturen, religionen und überzeugungen, genialität und irrsinn, konsequenz bis hin zur verwahrlosung. seit ewigen zeiten mit allen mitteln umkämpft, vereinnahmt, in beschlag genommen. mitten drin du und deine nicht deine kameras. deine nicht nur deine wahrnehmung. immer wieder authentisch, nichts zurückhaltend, voller fast kindlicher hoffnung. yes every thing will be fine! herzlichen gruss aus bern