Prag & Warschau (April & Mai 2016)
Posted by Antje Kröger Photographie on Jun 13 2016, in Mensch, Welt
Im April und Mai schaute ich mir mal wieder zwei Städte etwas genauer an, die ich lange nicht besucht hatte. Prag und Warschau. Meine Mama wünschte sich ein Prag-Trip mit mir: bekam sie. Eine Freundin wollte Warschau sehen, ich begleitete sie. Beide Male ungewöhnlich für mich, weil ich bisher die Welt am liebsten und meistens alleine bereist hatte und dies auch weiterhin tun werde. Dennoch war es „schön“, diese Orte mit Menschen zu teilen …
Prag
Viele Jahre war ich nicht in Prag. Als Kind reiste ich ganz viel in der damaligen Tschechoslowakei umher, als Abiturientin besuchte ich Prag ein wenig länger. Damals mochte ich es sehr, mit meiner Familie in Zelten zu wohnen und die exotischen Lebensmittel in der Fremde einzukaufen und dann zu probieren. Viele meiner kindlichen Urlaubserinnerungen spielen bei den „Tschechen“ oder in Ungarn. Für Kunst und Kultur interessierte ich mich damals noch nicht und auch das urbane Bestaunen von Städten stand nicht auf der Liste meiner Ich-bin-noch-klein-Lieblingsbeschäftigungen. Im Jahr 2016 nun also auch ein Familienausflug, dieses Mal in die Stadt mit Kunst und Kultur …
Ich mochte es nicht – dieses Prag 2016. So viele Menschen. So viel Nepp und Bauernfang. So wenig Muße für die wundervolle Architektur und die spannenden Menschen. Meine Mama sagte, als wir an der astronomischen Uhr waren so treffend: „Die Regenschirme sind ja auch schon wieder hier.“ Diese Stadt ist gefühlt nur noch Touristenhochburg. Darauf habe ich so schnell keine Lust mehr. Einen Tipp kann ich dennoch geben: der Flohmarkt Kolbenova, er ist mit der Metro ganz leicht zu erreichen. Mit Zeit kann man dort an den Wochenend-Tagen wunderbar alte, besondere Dinge finden, die ich auf unseren Flohmärkten noch nicht gesehen habe. Ich besitze nun beispielsweise ein knallig-gelbes tschechisches Kaffee-Service.
Warschau
Diese Stadt mag ich so sehr! Schon bei meinem ersten Besuch vor fünf Jahren verliebte ich mich. Warschau hat viel gemein mit Berlin – ohne den aufgesetzten Schick und vor allem ohne die Scharr der Hipster, zusätzlich kämpft sie mit ihrer Geschichte und kann einen an so unterschiedlichen emotionalen Zuständen abholen.
Polen habe ich schon oft bereist. Ich war in Poznan, Danzig, Stettin, Breslau, viel auf dem Land, in den Masuren… Die Hauptstadt jedoch hat diesen für mich besonderen Hauch der Geschichte. Ich war leider noch nie in Krakau und damit auch nicht in Auschwitz. Wer weiß, wie es sich dort anfühlt?
In meiner Israel-Geschichte aus dem letzten Jahr erzählte ich bereits über meine besondere Verbindung zum Judentum. In Polen, Warschau, spann sich dieser Faden für mich weiter.
Wir fuhren mit dem Zug von Berlin nach Warschau. Der Berlin-Warszawa-Express ist ein internationaler Gemeinschaftszug der polnischen Staatsbahn und der Deutschen Bahn. Er bedient derzeit achtmal täglich die Strecke von Berlin über Frankfurt (Oder) nach Warschau und benötigt 5 Stunden und 24 Minuten. Der Zug fährt nicht sehr schnell, so dass es bei schönem Wetter eine Freude ist, aus dem Fenster zu schauen in die saftige polnische Landschaft.
Die drei Tage in Warschau waren voller kultureller, geschichtlicher und kulinarischer Highlights, es gab die Nacht der offenen Museen, Humus, Piroggen und leckere Torten, eine Menge Musik, Sonne, Regen und Sturm. Ich komme wieder, auf jeden Fall!
Ghetto
Vor dem zweiten Weltkrieg lebte in Warschau die größte jüdische Gemeinde auf dem europäischen Kontinent, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg waren das mindestens 350 000 Juden (ca. 30 Prozent der Warschauer Bevölkerung). Die Mehrheit lebte in einfachen Verhältnissen vor allem im Nordwesten der Stadt, oft in heruntergekommenen Häusern. Mitte 1940 wurde im Stadtzentrum, westlich der Altstadt im Stadtteil Wola zwischen Danziger Bahnhof und dem alten Hauptbahnhof Warszawa Główna und dem Jüdischen Friedhof, das Warschauer Ghetto errichtet, es entstand eine 18 Kilometer lange und drei Meter hohe Mauer, die das Ghetto vom Rest der Stadt abriegelte. Hierher wurden vor allem Juden aus ganz Warschau, aus anderen unter deutscher Kontrolle stehenden polnischen Regionen sowie aus dem deutschen Reichsgebiet und den besetzten Ländern deportiert. Fast eine halbe Million Menschen wurden in dieses Ghetto verschleppt. Ab Mitte 1942 wurde das Ghetto nach und nach aufgelöst. Die Bewohner wurden ab diesem Zeitpunkt vom Umschlagplatz in eines der Konzentrationslager gebracht, die meisten von ihnen nach Treblinka (knapp 100 Kilometer nordöstlich von Warschau). Ein halbes Jahr später lebten noch gut 50 000 Menschen im Warschauer Ghetto. Ab April 1943 wurde der verbleibende Teil des Ghettos aufgelöst, die Bewohner leisteten dabei zunächst Widerstand. Das Warschauer Ghetto war Ort der größten jüdischen Widerstandsaktion. Das Ghetto wurde in den Folgewochen zum großen Teil abgebrannt und die restlichen Aufständischen getötet. Am 18. Mai 1943 wurde das Warschauer Ghetto mit der Sprengung der Synagoge endgültig aufgelöst und wurde danach zu einem Gefängnis.
Viel ist vom ehemaligen Ghetto nicht mehr zu sehen im heutigen Warschau, einzelne Mauern, Mahnmäler, Hinterhöfe, wenige Häuserfassaden, Gedenktafeln. Die ehemalige Ghetto-Mauer ist auf dem Gehweg sichtbar gemacht worden mit 22 Erinnerungsmarkierungen.
Ich persönlich finde es merkwürdig, dass an diesem Ort derzeit etliche Büro-Wolkenkratzer entstehen, dass dort so viele neue Wohnblocks errichtet wurden. Mir ist seit der großen Katastrophe dort einfach zu wenig Zeit vergangen, um an diesem Platz neu zu arbeiten, wohnen, lieben, erziehen usw. Ich hatte schon bei meinen Spaziergängen so ein bedrückendes Gefühl.
„Nachts hörte man häufig das Stöhnen sterbender Menschen in den Gassen. Das Bild des Elends, das sich Tag für Tag auf den Straßen bot, beschreibt Marcel Reich-Ranicki: «Am Straßenrand lagen, vor allem in den Morgenstunden, die mit alten Zeitungen nur dürftig bedeckten Leichen jener, die an Entkräftung oder Hunger gestorben waren und für deren Beerdigung niemand die Kosten tragen wollte.» Von grausamer Gleichförmigkeit war auch die Arbeit der Männer in ihren schwarzen Anzügen, vor denen es vielen grauste, die mit dem Beerdigungswagen die Leichen von den Straßen holten. «Manchmal», so Chaim Kaplan über den täglich wiederkehrenden Anblick, «werden mehrere Leichen, eine über der anderen, in den Sarg gelegt und zusammen beerdigt. Ein Engrosgeschäft! Und im Getto gibt es einen Verrückten, der hinter jedem Sarg herläuft und schreit: ‹Hat der Verstorbene seine Brotmarken zurückgelassen?›» Stanisław Adler berichtet, wie der OD in einem Kellerloch, in dem eine alte Bettlerin wohnte, fünf verweste Leichen fand. Wie sich herausstellt, gab sie erschöpften Menschen auf der Straße vor, ihnen Obdach zu bieten, waren die halb verhungerten «Gäste» dann gestorben, verkaufte sie deren Kleidung. Josef Gelbart, der im Oktober 1938 aus Hamburg nach Zbąszyń abgeschoben worden war und von Beginn an im Warschauer Getto gelebt hatte, schreibt am 1. September 1941 an seinen früheren Chef Hans Stockmar: «Die Menschen meiner Umgebung sterben der Reihe nach weg.» Phasenweise konnten die Beerdigungen gar nicht im notwendigen Tempo durchgeführt werden – der Judenrat verzeichnet Anfang 1942 165 Begräbnisse am Tag –, dann lagen die Leichen einfach noch eine ganze Weile vor den Häusern. Ordnungsdienstmänner gingen in der Dämmerung durch die Straßen, bedeckten die Toten mit Papier und meldeten, dass sie abgeholt werden müssten. Władysław Szpilman beschreibt in seinen Erinnerungen, dass er abends auf dem Rückweg vom Café, in dem er musiziert hatte, aufpassen musste, nicht auf Leichen zu treten.
Das Sterben war öffentlich geworden, alltäglich und fast schon normal. Praktisch überall saßen Bettler an Hauswände gelehnt auf dem Boden und baten um ein Stück Brot und «ihr Zustand», erinnert sich Marcel Reich-Ranicki, «ließ vermuten, daß sie sehr bald nicht mehr sitzen, sondern liegen würden – von Zeitungen bedeckt». Ausgemergelte Männer und Frauen standen auf den Bürgersteigen, weinende Kinder hockten in den Ecken und jammerten, oder, wie Sophie Lewiathan es beschreibt, «Kinder weinen in Lumpen gekleidet um ein Stückchen Brot, Frauen fallen auf der Straße um, entkräftet vor Hunger». Es waren zu viele Bettler und zu wenig Gettobewohner hatten überhaupt noch etwas abzugeben. So eilten viele vorbei, ohne überhaupt Notiz von den zerlumpten Gestalten zu nehmen, «weil die Zahl der Bettler unsere Herzen verhärtet hat», wie Chaim Kaplan sich die Abgestumpftheit erklärt. Die Menschen gewöhnten sich gezwungenermaßen an den Anblick des Elends, der Not. Sie hatten kaum eine andere Wahl, wollten sie nicht verrückt werden. Berichte über dieses Abstumpfen, diese Gleichgültigkeit angesichts der Leichen auf den Straßen, der kranken Kinder, Hungernden und Kranken, denen niemand mehr hilft, sind in zahlreichen Selbstzeugnissen zu finden. Ringelblum etwa konstatiert im August 1941 «eine merkwürdige Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod» und im Oktober dieses Jahres: «Es gibt kein Mitleid mehr.» Und doch: Ganz gelang es nicht, die Realität auszublenden.“Markus Roth/Andrea Löw, Das Warschauer Getto – Alltag und Widerstand im Angesicht der Vernichtung
Jüdischer Friedhof an der Okopowa-Straße
Der 1806 angelegte Friedhof besteht aus fast 200 000 Gräbern auf einer Fläche von über 33 Hektar Land. Er lag außerhalb des Warschauer Ghettos (westlich direkt angrenzend) und wurde im Zweiten Weltkrieg kaum beschädigt. Hier liegt beispielsweise Ludwik Zamenhof begraben, der Erfinder der Kunstsprache Esperanto, aber auch jüdische Autoren, Musiker und Wissenschaftler. Es ist einer der größten Friedhöfe Europas – doch vor allem: Er ist unüberschaubar.
Auf dem jüdischen Friedhof befinden sich Spuren von Janusz Korczak. Er war ein polnischer Arzt, Kinderbuchautor und bedeutender Pädagoge und wurde durch seinen Einsatz für Kinder bekannt. Er begleitete die Kinder seines Waisenhauses beim Abtransport in ein Vernichtungslager, obwohl dies auch für ihn selbst den Tod bedeutete. In der Nähe des Eingangs des Friedhofs befindet sich das bekannte Denkmal Janusz Korczaks und das Grab seines Vaters Josef Goldszmit. Außerdem gibt es ein Denkmal zur Erinnerung an die vielen jüdischen Kinder, die im Zweiten Weltkrieg umgekommen sind.
Während meines letzten Warschau-Besuchs war Hochsommer, ich und die vielen Mücken verbrachten unsere Zeit auf dem Powązki-Friedhof. Schon dieser beeindruckte mich so. Aber: der angrenzende Jüdische Friedhof übertrifft alles, was ich bisher an Friedhofskultur erleben und fühlen durfte. Ich verbrachte Stunde um Stunde dort und drang so tief ein in diesen Gräberwald, dass ich lange Zeit keinem lebendigen Menschen mehr begegnete.
Der Jüdische Friedhof wird genau wie der Powązki-Friedhof von einer hohen Backsteinmauer eingeschlossen, wahrscheinlich zum Schutz. Besucher müssen sich an die Öffnungszeiten halten und Eintritt zahlen.
Der Friedhof ist zum Großteil hebräisch beschildert. Er ist ein Sammelsurium aus Grabsteinen, Denkmälern und der Natur, die sich rundherum in symbiotischer Art und Weise mit allem verbindet. Dieser Ort ist ein Ort, um zur Ruhe zu kommen, durchzuschnaufen, ein Ort, um mit der Vergangenheit Freund zu werden, um Kunst zu sehen, um den Vögeln zuzuhören, das Rascheln der Bäume zu genießen, um demütig dem Leben gegenüber zu sein …
Powązki-Friedhof
Der 1790 gegründete Friedhof ist einer der historisch und kulturell bedeutendsten Friedhöfe in Polen. Obwohl der Friedhof im Zweiten Weltkrieg großen Schaden erlitt, ist er ein reiches Geschichtsmuseum der Stadt und eine wahre Schatzkiste an Skulpturen und Objekten der Friedhofsarchitektur. Man findet hier viele hervorragende Werke des Klassizismus, der Sezession und der zeitgenössischen Kunst. Das gesamte Friedhofsgelände steht unter strengem Denkmalschutz.
Comments
Trackbacks and Pingbacks
Lublin (Juli/August 2021) › Antje Kröger | Fotokünstlerin
[…] Ein halbes Dutzend Mal reiste und bereiste ich Polen bisher, davon ausgenommen diverse Tagesausflüge auf den Polnischen Wochenmarkt und Stettin. Das war bereits in Kindertagen und ich habe kaum Erinnerungen daran. Zum ersten Mal fuhr ich während meiner aktuellen Polenreise mit der Polnischen Eisenbahn. Reservierungspflichtige Züge. Wie fast überall auf der Welt (Hallo Deutsche Bahn!). Mein Wagen war der mit der Nummer 13. Bingo. Mein Platz allerdings bereits befraut. Zwei Freundinnen wollten zusammensitzend bis nach Warschau fahren. Für mich kein Problem, denn so wanderte ich im Wagen ein wenig herum und durfte verschiedene Sitze ausprobieren. Die Fülle an Menschen im Gefährt war nicht immer gleich. Von Poznań nach Warschau war wohl jeder Platz aufgefüllt. Alle anderen Strecken waren solide ausgebucht. Meine Zugstrecke: Leipzig-Berlin // Berlin-Rzepin // Rzepin-Lublin. Als der polnische IC Warschau erreichte, lief auf meinen Kopfhörern „Bello E Impossibile“, und ich konnte nicht anders als lächeln, zu gerne wäre ich ausgestiegen. Wie vorher auch schon Berlin, Warschau glänzte in der Sommersonne äußerst attraktiv. Mir blieb nur eine Vorfreude und die Erinnerung an wunderbare Momente. […]