Antje Kröger | Fotokünstlerin

Varitustruktion

Posted by on Apr 04 2023, in Mensch

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Von Nacktschnecken und Todesfotografie

Der Deckel des Glaspalastes, in dem die drei Grazien vorübergehend residierten, hatte fünf Atemlöcher. Ins Glas selbst hatte ich ein paar Bärlauchblätter geschoben. Ihnen sollte, solange sie bei mir unter schlüpften, an nichts fehlen. Atmen, kriechen, essen, kacken, schnattern (ich weiß, sie waren keine Entchen), das musste reichen für unsere gemeinsam kreative Zeitspanne. Ihr künstliches Tiny House (dachte, doppelt hält besser) stellte ich auf den Fenstersims, Licht und Schatten für ihr Gemüt. Wie für meines. Während ich so über Wilhelm Conrad Röntgen recherchierte, beobachtete ich die drei, wie sie sich in ihrem zusätzlichen Habitat zurecht ruckelten. Der Herr Röntgen. 1923 gestorben, mit 77 Jahren an Darmkrebs. Ein merkwürdiger Zeitgenosse, merkwürdig trifft es nicht, speziell vielleicht eher. Er erinnerte mich kurz an Kafka. Verfügte er doch in seinem Testament, dass seine Freunde alle seine Aufzeichnungen vernichten sollten. Taten sie, wie befohlen. Dass sich Max Brod dagegen entschied, ist immer noch ein großes Glück. Zumindest für uns Leserinnen. Aber zurück zu Wilhelm Conrad, den das Schicksal der 1920er-Inflation nicht verschonte. Denn er verarmte kurz vor seinem Ableben. Um so mehr ich in sein Röntgenuniversum versinke, um so faszinierter bin ich vom Menschen Röntgen. Jedes Kindchen weiß um die Strahlen gleichen Namens. Aber wer war der Mensch, der Wissenschaftler, der Mann? Er war der erste Nobelpreisträger für Physik, aber viel wichtiger: Er meldete keine Patente über seine Erfindungen an, alles publizierte er frei und sorgte so für eine schnelle Verbreitung der bahnbrechenden Entdeckungen. Als er 1923 starb, war Röntgen ein einsamer Mann. Ein paar Jahre zuvor war seine geliebte Frau gestorben. Bertha. 1895 hatte Ehemann Wilhelm von ihrer rechten Hand das erste Röntgenbild der Geschichte fotografiert. Mit Ehering. Röntgen konnte mithilfe der Strahlen durch den Körper seiner Frau schauen. Und sie, sie hatte eine Vorschau auf den Tod. „Wo viel Röntgenlicht ist, muss auch Röntgenschatten sein“, sagte Röntgen zum Freund Ferdinand Sauerbruch. Neues Wissen. Altes Wissen. Totes Wissen. Fort-Schritt. Zurück-Schritt.

Mir erschien die überdimensioniert große Schnecke im Traume. Sie hatte sich aufgemacht aus ihrem Glaspalast. Den Deckel beiseite geschoben. Schleimiger Weg zu mir ins Schlafzimmer. Ihr Kalziumkarbonat-Haus passte kaum durch die Türen. Das schleifige Geräusch drang an meine Schlafohren. Während sie zu mir kroch, kaute sie genüsslich auf ihrem Blatt herum und schiss gleichzeitig das Verdaute wieder hinaus. Das Getier hinterließ eine Spur aus Sekret, Fäkalien, Abrieb des Gehäuses. Mich schüttelte es im Traum. Es war klar, den Besuch der Todesschnecke würde ich nicht überleben. Genauso kam es. Nur noch Fetzen meines Traumes sind mir in Erinnerung. Die Schnecke legte sich wie der Mantel des Todes auf meinen nackten Körper. Der Mantel war schwer. Doch ich wurde nicht erdrückt, zerdrückt. Nein. Ich ertrank im Schleim der Kriechenden. Sie nässte mich komplett ein. Erst schluckte ich noch, dann verschluckte ich mich, schließlich ging ich unter und riss dabei die Augen ganz weit auf …


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