Republika Srpska (Potočari, Gedenkstätte Srebrenica)

Posted by Antje Kröger Photographie on Aug 11 2023, in Mensch, Welt

Völkermord von Srebrenica, vom 11. bis zum 19. Juli 1995

Mehr als 8000 muslimische Jungen und Männer zwischen 13 und 78 Jahren wurden durch die Armee der Republika Srpska ermordet. In Bosnien und Herzegowina wird am 11. Juli offiziell der Massaker gedacht. In der Republika Srpska (der serbische Teil Bosniens) dagegen ist an diesem Sommertag ein „normaler“ Arbeitstag.

Als ich im Frühling 2022 nach Sarajevo reiste, plante ich auch einen Besuch in Srebrenica bzw. der Gedenkstätte Potočari fest in mein Reisevorhaben ein. Das stellte sich aber als gar nicht so einfach heraus. Es gab von der Hauptstadt Bosniens keine Verbindungen mit Bus oder Zug an diese „Schreckensorte“. Mein Vermieter riet mir deshalb, eine begleitete Tour zu buchen. Gesagt, getan. Auch wenn ich solche „festen“ Reisen schwierig finde für mich und mein freies, neugieriges Auge.

Wir fuhren morgens um 8 Uhr in Sarajevo los. Unser Automobil war ein VW Kombi. (Ich erinnerte mich daran, dass mir meine bosnische Freundin Jasmina ein paar Tage vorher erzählt hatte, dass das Auto Made in Germany ein so wichtiges Ding in Bosnien war und ist, dass die deutschen Worte für die einzelnen Teile Einzug gehalten hatten in die bosnische Sprache.) Wir saßen zu viert im Gefährt. Unser Guide am Lenkrad, neben ihm saß eine Lehrerin aus Griechenland, die Hinterbank teilte ich mir mit einem rumänischen Botschaftsangehörigen. (Dass ich als Deutsche selbst kein Auto besitze, war übrigens für alle drei mehr als verwunderlich!)

Bis an unser Ziel benötigten wir 2 ½ Stunden. Unsere Fahrt durch die Berge war immer viel zu schnell. Mein Magen spielte nur noch verrückt. Zum Glück hatte ich nichts gegessen, denn dann hätte ich eine Kotztüte benötigt. Unser Guide war knapp über 30 Jahre alt (Er wurde 1991 in Sarajevo geboren.) Im Laufe des Tages gab er mir zwei wichtige Lektionen mit auf den Lebens-Weg. Die erste: Religion muss privat sein, damit Menschen friedlich nebeneinander leben können. Die zweite Lektion: Jeder Mensch, der sich aus humanistischer Sicht für Srebrenica, all die anderen Gräuel dieser Welt und an der Geschichte interessiert, ist wichtig für den Fortbestand der Spezies Mensch. Nur durch den Blick in das Auge des Schmerzes könne sich je etwas verändern. Leider habe ich den Namen dieses klugen Mannes vergessen. Seine Stimme dagegen nicht. Er erzählte so viel über sein Land, seine Geschichte, die Kriege. Mir fiel es schwer, alle Informationen aufzunehmen, zu verstehen, abzuspeichern. Aber ich tat mein Bestes. Eine Geschichte, die er uns erzählte, berührte mich besonders. Nein, es war keine Geschichte, es war ein Bild, dass er uns schenkte. Ein tief emotionales Bild: Sarajevo. 1993. Ein Wohnhaus in der Nähe der gelben Bastion. Die Fenster abgeklebt. Der Raum dunkel. Die Mutter füttert den kleinen Sohn. Eine Kerze flackert. Das Aufwachsen eines 1991 in Sarajevo geborenen Jungen in der Dunkelheit. Heute kann er sich über dieses tiefdunkle Bild der Vergangenheit freuen. Denn es ist ein Bild seiner Kindheit. Ein warmes Bild.

Wir fuhren durch Schafland. Überall Herden mit diesen wundervollen Tieren. Und überall zerstörte Häuser. Überall Schafe in und um die zerstörten Häuser. Ich hätte gerne Pause gemacht, um diese traurige Romantik fotografisch einzufangen. Das Auto aber steuerte geradewegs auf unser erstes Ziel zu. Die Gedenkstätte Potočari. Der berühmte „Friedhof“. In den Gräbern manchmal nur einzelne Körperteile der Opfer begraben. Noch heute finden Identifizierungen der Toten statt und damit anschließend weitere „Beerdigungen“. Immer noch sind nicht alle Massengräber gefunden. Der Friedhof menschenleer an diesem Frühjahrstag. Nur eine Gruppe Arbeiter mit Mähgeräten war in der Mittagssonne damit beschäftigt, das Gras, die Gänseblümchen und die Butterblumen zu stutzen. Ich lief umher. Überall wollte ich mal geschaut haben. Meine Mitreisenden begnügten sich mit dem Eingang des Friedhofes. Die Sonne erschuf heftige Schatten auf Wegen und Stehlen. Die Leere des Ortes bescherte mir Gänsehaut. Kannte ich doch die Bilder von trauernden Müttern, Schwestern, Töchtern, Cousinen, Tanten, Ehefrauen. Ich ahnte die Millionen Tränen, die hier vergossen wurden. Ich konnte die anklagenden Schreie in der Stille hören. So ein unglaublich intensiver Ort. Bevor ich ihn übrigens zum ersten Mal betrat, (unsere Reisegruppe kam später noch einmal hierher zurück) kam mir ein mittelaltes Ehepaar entgegen und warf mir mit einem wissenden Lächeln ein „Thank you“ zu.

Nach unserem Friedhofsaufenthalt fuhren wir nach Srebrenica. In das ehemalige Silberörtchen, Bergbauörtchen, Erholungsörtchen. Ich erblickte Plakate vom serbischen „Helden“ am Ortseingangsschild. Gavrilo Princip. Der Attentäter von 1914. Er erschoss Franz Ferdinand plus Ehefrau. Und löste damit offiziell den 1. Weltkrieg aus. Wir hielten nicht an. Im Schritttempo durchquerten wir die Einöde. Ich klebte an der Fensterscheibe. Kaum einen Menschen konnten meine Augen erblicken. Das soziale Leben des Ortes war zum Erliegen gekommen. Schuld und Sühne. Irgendwie. Wir fuhren zurück nach Potočari. Auf dem Weg sahen wir verschiedene Gebäude mit Unmengen an Einschusslöchern. Nahe dem Ort Kravica passierten wir ein altes Lagerhaus. In nur wenigen Stunden wurden an diesem Ort bis zu 1000 männliche Muslime erschossen. In Kürze will der Besitzer die Halle abreißen lassen. Aus den Augen. Aus dem Sinn. Keine Erinnerungskultur. Kein Gedenken. Ich will es nicht glauben!

In Potočari besuchte unsere kleine Reisegruppe das ehemalige UN-Gelände. Dort lebten die Blauhelme aus den Niederlanden. Die nicht einschritten, um das Massaker an den über 8000 Menschen zu verhindern. Heute ist in den Gebäuden eine Ausstellung untergebracht. Doch zuerst mussten alle Besucherinnen einen Dokumentarfilm anschauen. Mussten? Es fühlte sich an wie „müssen“. Denn der Film musste von uns ausgehalten werden. Keine „westliche“ Triggerwarnung. Pure Gewalt. Purer Tod. Pures Leben. Die „Serben“ hatten nicht genug vom Töten. Sie nahmen einen Teil ihrer Verbrechen auf, auf Filmmaterial. Und das sahen wir hier.

Danach ein Rundgang durch die Ausstellung. So viele Informationen. So viel Zeitreise in die 90er. Auch hier: So viel Schuld. Schuld von jungen Männern aus dem Westen, die auf ihren Einsatz nicht wirklich vorbereitet waren. Schuld einer Nation. Schuld eines politischen Systems. Kann bei soviel Schuld überhaupt vergeben werden? Frage ich mich. Mein Herz auf einmal ganz kalt. Es wollte nichts mehr fühlen.

Bei den Müttern von Srebrenica vor dem ehemaligen UN-Gelände kaufte ich mir die weiße Blume mit der grünen Blüte, gehäkelt. Ich befestigte sie an meiner Jeansjacke, dort blieb sie. Unsere kleine Reisegruppe wollte etwas essen. Wir kehrten ein. Irgendwo in der Republika Srpska. Mein Essen war sehr gut. Ich beobachtete die Menschen. Waren sie anders als in Sarajevo und Mostar? Als wir zum Auto liefen, sah ich wieder ein Plakat mit Gavrilo Princip, an die Tür eines Wohnhauses geklebt.

Auf der Fahrt zurück nach Sarajevo schlief ich. Mein Körper war erschöpft vom Tag, meine Seele auch. Unser Guide fuhr mit uns zur Agentur seiner Arbeitgeber. Dort kaufte ich das Buch „Surviving Srebrenica“ von Hasan Hasanović. Er war 19 Jahre alt, als er als einziger männlicher Angehöriger seiner Familie den Todesmarsch überlebte. Sein Zwillingsbruder, Vater, Großvater und andere aus der Familie starben. Im Jahr 1995.