Sofia, Bulgarien (März 2018)
Posted by Antje Kröger Photographie on Aug 19 2018, in Mensch, Welt
Als ich ankomme, fremdele ich.
Sofia, die Hauptstadt von Bulgarien, ist in diesem Jahr der erste Ort, an dem ich mich nicht gleich wohlfühle.
Berlin-Sofia eine Flugreise von zwei Stunden. Ich breche im winterlich abendlichen Berlin auf, komme im dunklen, noch winterlicheren Sofia an. Die S-Bahn bringt mich in mein Hostel im Zentrum, ein leichter Weg. Zum Glück, denn ein anstrengender, auslaugender Workshop liegt hinter mir, ich bin müde, fühle mich kaputt oder krank, weiß ich noch nicht genau. Einen kurzen Spaziergang gönne ich mir noch, habe ich doch Hunger. Die Kamera nehme ich nicht mit. Danach muss ich schlafen, der noch neue Ort interessiert mich an diesem Abend wenig.Ich weiß wenig über Bulgarien. Erst vor kurzem erfuhr ich von der Rettung von 15.000 Juden durch das Parlament und den König während des Zweiten Weltkriegs. Ich las noch mehr darüber, die Geschichte ist sich nicht einig, welche Rolle wer in diesem Spiel übernahm und ob es wirklich eine humane Aktion vonseiten Bulgariens gewesen sei. Fast alle der überlebenden bulgarischen Juden sind Ende 1945 nach Israel ausgewandert.
An meinem ersten Tag in Sofia regnet es. Ich laufe durch die Innenstadt. Es ist ruhig, die Menschen sind bunt, modern, aufgetakelt, altertümlich, extraordinär, elegant, zerlumpt – eine wilde Mischung, irgendwie anders als im Osteuropa, in dem ich bisher war. Der Menschenschlag ist ein anderer, sehr freundlich, sehr hilfsbereit, lächelnd, offen, irgendwie befinden sie sich dazwischen, nicht Ost, nicht West, EIGEN, das mag ich.
Nach wenigen Stunden „sehe“ ich die Armut, vor allem der Alten. Das bedrückt mich, vor allem an meinem ersten Abend.
Mein Herbergsvater ist ein Mitte vierzigjähriger Bulgare, der sich viel mit der Weltgeschichte beschäftigt hat. Jeden Abend schnattern wir über Deutschland, Bulgarien und den Rest der Welt… Ein paar interessante Gesprächsfetzen, die mir in Erinnerung bleiben:
*das Regenschirmattentat in London – Mordanschlag auf den bulgarischen Schriftsteller und Dissidenten Georgi Markow am 7. September 1978
*Bulgarien ist unter den zehn ersten Ländern, die die meisten Waffen exportieren, sie liefern vor allem Pistolen und Kalaschnikows in die Welt
*Nutzung von Windkraft und Sonnenenergie: hinter den skandinavischen Ländern befindet sich sofort Bulgarien
*das kyrillische Alphabet entstand in Bulgarien
*Churchill bombardierte Sofia im Zweiten Weltkrieg, weil er im Ersten Weltkrieg dort eine Schlacht verlor
*die Hälfte von Sofia wurde bei diesen Bombardement zerstört
*Grenze zwischen Bulgarien und der Türkei: über 20 DDR-Bürger versuchten die Flucht und kamen dabei ums Leben, von den meisten ist nicht bekannt, wo sich ihre Leichen befinden
*Bulgarien stellte zu sozialistischen Zeiten vor allem Computer her und elektronische Maschinen
*in Sofia gibt es zirka 1 Million Autos, 90 Prozent davon sind billige Gebrauchtwagen
*die Menschen in Sofia besitzen eine Menge Humor, sie lachen auch über den ehemaligen Kommunismus
*die meisten Touristen kommen aus Frankreich, Sofia entwickelt sich langsam zu einer touristischen Stadt, nicht nur mehr das Schwarze Meer ist für die Urlauber interessant
*der März wird als Frauenmonat bezeichnet, denn das Wetter macht, was es will…
Es ist Marteniza. Im März wird in Bulgarien überall rot-weißer Schmuck verkauft und getragen. Überall wohin man hinblickt, sind diese roten und weißen Anhänger. Sie sah ich übrigens auch schon in der Republik Moldau vor Kurzem.
Ich laufe und laufe an diesem ersten Tag. In einem Park begegnet mir ein Stück der Berliner Mauer und der Dudelsackspieler, der für mich ein deutsches Schlaflied anstimmt. Und ich sehe die Berge, kurz hinter dem Zentrum. Beeindruckend. Am Ende des Tages begegne ich einer Frau mit wilden Locken, die vor einer Kirche sitzend, sich ein Essen zusammenrührt. Sie bittet mich, sich zu ihr zu setzen, damit sie ihr Essen mit mir teilen kann. Ich probiere wenigstens, denn ich weiß nicht genau, was ich da zu mir nehme. Tage später wird mir gleiches Gericht wieder angeboten, dieses Mal auf dem Friedhof.
Es ist Ende März. Nun ist der Zeitpunkt gekommen, an dem ich beginne, den Schnee zu hassen. In diesem Jahr hatte ich bereits bei allen meinen Reisen eine Menge davon. Hier in Sofia ist er nass und glatt. Das macht die Tage anstrengend und rutschig. So kommt es am Abend meines zweiten Tages in der Stadt zu meinem ersten Sturz. Ich beobachte einen Alten, der Kartons und anderes sammelt, will ihm hinterher, trete dabei in ein Straßenloch und falle vor eine alte Tram. Zwei große, starke Männer heben mich auf. Ich bin verwirrt, meine Beine sind schwach, meine Knie blutig.
Zwiebeltürme faszinierten mich schon als Kind genauso wie Matroschkas. Als ich ausgeschlafen und mich von meinem Sturz erholt habe, mache ich mich auf, um die russischen Kirchen von Sofia zu erkunden. Meine Schuhe sind zu jedem Zeitpunkt des Tages nass, das nervt. Aber ich schlage mich tapfer weiter durch den Schnee. Zwischendurch kehre ich ein und esse Suppe. Diese erinnert mich wieder an mein geliebtes Osteuropa. Überall sind fleißige Helfer damit beschäftigt, den Schnee hinweg zu räumen. Manchmal sehe und höre ich ein Flugzeug, dass tief über Sofia hinweggleitet.
Der Schnee fließt langsam hinfort. Es taut, die Straßen sind nass. Ich besuche heute erst die orthodoxe Kirche „Hl. Nedelja“, dann die katholische Kathedrale „Hl. Joseph“, anschließend die Banja-Baschi-Moschee und die Synagoge. Alle sakralen Gebäude befinden sich in unmittelbarer Nähe. Alle Religionen friedlich dicht nebeneinander.
Die Sofioter Synagoge ist nach den Synagogen in Budapest und Amsterdam der drittgrößte jüdische Bau Europas. 1903 entstand die Idee, ein neues Gotteshaus zu errichten. Das Gebäude wurde nach Plänen von Friedrich Grünanger gebaut. Der österreichische Architekt lehnte sich an die Wiener Synagoge an, die später von den Nazis zerstört wurde.
Ich treffe in der Synagoge einen Juden aus der Nähe des Gazastreifens. Er erzählt mir, dass er in Polen geboren wurde, damals noch in einem deutschen Ort. Seine Eltern flüchteten nach Russland. Nach dem Krieg kamen sie zurück, waren aber nicht erwünscht. Polen bewohnten mittlerweile ihr Haus. In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts wanderte die Familie nach Israel aus.
Zusammen sitzen wir mit seiner bulgarischen Sportskollegin in der Synagoge und lauschen den Worten des alten Juden, der uns alles über das Gebäude und das bulgarische Judentum erzählt. 1903, als der Bau der Synagoge begann, bewohnten zirka 10.000 Juden Sofia, heute sind es zwischen 3.000 und 4.000. 1944 bei den Bombardierungen von Sofia wurde die Synagoge getroffen und erheblich zerstört. Eine weitere Beschädigung musste die Synagoge während des großen Erdbebens 1977 aushalten.
Erst ab 1989 begann die jüdische Gemeinde mit einer großen Restauration der Synagoge, die wegen ihres baulichen Zustandes praktisch nicht mehr als Synagoge benutzbar war. Besucher dürfen zu bestimmten Zeiten klingeln und werden nach einer Sicherheitskontrolle hineingelassen. Besonders beeindruckend ist der riesige Kronleuchter, der in Wien hergestellt wurde. Am Eingang der Synagoge steht ein Hochzeitsbaldachin. Ich stehe neben ihm und beobachte eine Familie, die unter ihm beginnt, Selfies zu fotografieren. Ich komme mir vor wie in Disneyland.
Als ich aus der Synagoge herauskomme, entdecke ich einen blau-gelben Tram-Wagen. Ich denke noch so bei mir, dass dieser den alten Leipziger Trams ähnelt. Am Abend finde ich heraus, dass die Straßenbahn, die ich sah, ein Geschenk der Stadt Leipzig an die Stadt Sofia war… oder aber auch nur billiges „Entsorgen“. Das weiß ich nicht genau.
Ich schlendere zum Frauenmarkt, nachdem ich die vor allem Alten und Armen beim Abfüllen des mineralhaltigen, 46 Grad warmen Wasser aus den Entnahmestellen beobachte. Sofia ist die Stadt der Löwen, es gibt eine Löwenbrücke, überall begegnet man den tierischen Gefährten aus Stein, die Währung Lew steht veraltet für Löwe…
Am nächsten Tag beschließe ich, das Zentrum zu verlassen. Ich fahre mit dem Bus an den Rand der Stadt und spaziere durch die Wohnsiedlungen. Hier ist alles nicht mehr schick, sondern pragmatisch und praktisch. Dafür gibt es gutes Essen, am Kiosk an der Straße esse ich die besten und billigsten Schaschliks und Pommes. Überall erblicke ich Zettel mit Verkündigungen des Todes. In dieser Vehemenz hab ich diese bisher nirgends in der Welt wahrgenommen. Ich nenne diesen Tag den Tag der Abwesenheit. Sie spüre ich überall. Die Menschen hier wirken langsam und energielos.
Heute ist der Tag meines zweiten Sturzes. Morgens bat mich der Chef des Hostels, mir doch etwas mehr anzuziehen, wenn ich vom Zimmer in das Bad gehe. Aha, da ist es wieder – das prüde Osteuropa. Ich erinnere mich an andere Reisen, wo sogar mit „voller Montur“ geschlafen wurde. Okay. Dann ab jetzt erst anziehen und dann duschen, sehr sinnvoll.
Im Übrigen wohne ich mit einer Französin zusammen, die beim Kundensupport von Spotify arbeitet. Sowieso treffe ich in meinen Sofioter Tagen sehr viele merkwürdige, besondere Existenzen: wie schon gesagt Esther aus Paris, Tatiana aus der Republik Moldau, die in Paris lebt und seit wir bei Facebook miteinander verbunden sind, erlebe ich, wie sie wie eine Süchtige von einer Reise zur anderen hechtet, da ist der 21-jährige Schwabe, der schnell Millionär werden will, um nach Australien auszuwandern, der schön angezogene Amerikaner mit dem roten Pullover und rotem Schal, der eigentlich Serbe ist und der angebliche Sohn von Tito, ein Nigerianer, der in Sofia studiert und Priester oder Motivator werden möchte, deshalb mit uns Atheisten ein Problem hat und mit seiner Überzeugungskraft hart zumindest an mir abprallt. Und dann ist da noch ein Deutscher, jünger als ich, der seit einigen Jahren in Sofia wohnt und sich nun eine Wohnung kaufen will, ich blicke bis zum Schluss nicht wirklich, womit er sein Geld verdient. Irgendwas mit Anlagen und Immobilien, scheint sich jedenfalls zu lohnen.
Es ist Samstag und ich mache mich auf den Weg zum Zentralfriedhof. In der Nacht hat es wieder einmal geschneit. Ein Hin und Her. Frühling, Winter, Frühling, Winter. Die Tram wackelt mit mir zum Rande der Stadt. Ich schleiche über die glatten Friedhofswege. Früh bemerke ich das rege Treiben. Ich treffe ein junges Paar mit Mama, die vor einem Grab einen Tisch aufgebaut hatten. Sie essen und trinken und bitten mich, dieses mit ihnen gemeinsam zu tun. Sie feiern den Todestag eines Angehörigen. Es gibt gefüllte Weinblätter, Süßes und Wein. Sie geben mir sogar noch etwas mit, für später. Ich möchte ein Foto von ihnen machen. Sie zieren sich. Ein paar Weine später fotografiere ich sie und gehe weiter.
An einem anderen Grab gibt es Wodka. Die Witwe erzählt mir über den Verstorbenen – auf Bulgarisch, ich nicke fleißig, bis die Enkelin der Oma zu verstehen gibt, dass ich sie leider nicht verstehen kann. Ich wanke weiter. Auf manchem Schnee vor den Gräbern wurde Wein ausgeschüttet, schön anzusehen.
Vor der Friedhofskirche fahren regelmäßig einfache Kombis vor und laden Pappsärge aus. Manchmal fällt der Deckel herunter. Der Umgang mit Tod ist hier so ein ganz anderer. Ich bin seit Stunden auf dem Friedhof unterwegs. Und ich habe schon eine Menge getrunken. Meine Blase drückt. Ich setze mich hinter einen großen Grabstein, anderes ist nicht mehr möglich. Als ich fertig bin, rutsche ich auf der nassen Grabplatte aus und falle. Aber so richtig. Als erstes schaue ich nach der Kamera, die ich umgehängt habe. So wie früher. Einmal stürzte ich auf dem Nachhause-Weg vom Kindergarten. Ich hielt zwei Gläser in den Händen. Die Scherben des einen Glases gruben sich tief in mein Fleisch. Dennoch schaute ich erst einmal nach dem anderen Glas, in der Hoffnung, dass es heil geblieben war.
An meinem letzten Tag fahre ich in die Berge. Davon gibt es um Sofia herum eine Menge. Mit dem Bus ist dies ganz einfach. Zumindest möchte ich eine Ahnung bekommen von der Natur um die Stadt herum. Viel ist heute nicht möglich, der Boden ist so aufgeweicht und nass. Ich treffe Stefan und Alexander, den Russen und den Bulgaren. Sie sitzen vor einem Laden und trinken Wodka und Bier. Sie berichten mir von schönen Ausflugszielen. Es ist gerade Mittag und ich habe schon wieder ein Glas Wodka in der Hand. Ich scherze mit den beiden, ich mag sie. Nach dem zweiten Glas aber gehe ich weiter. Solange, bis ich Sofia von oben sehen kann, dann kehre ich um und nehme einen Bus heimwärts.
Meine Winterschuhe lasse ich in Sofia.
Ich muss unbedingt wiederkommen. Im Frühjahr, im Sommer, im Herbst. Den Rest des Landes begutachten. Mein Abschied ist dieses Mal sehr emotional. Der serbische Amerikaner und mein geschichtsfanatischer Hostelbesitzer umarmen mich fest und flüstern in mein Ohr, dass sie mich vermissen werden. Ich werde sie auch vermissen.
Die Zeit und die Menschen in Sofia waren so anders, so verrückt, so lehrreich…