Mageres Fleisch // Von Hungertag zu Hunger-Tag
Posted by Antje Kröger Photographie on Feb 01 2023, in Mensch
Hungerkünstler & Hunger-Aufstände – 1923
„Man gewöhnte sich an die Sonderbarkeit, in den heutigen Zeiten Aufmerksamkeit für einen Hungerkünstler beanspruchen zu wollen, und mit dieser Gewöhnung war das Urteil über ihn gesprochen. Er mochte so gut hungern, als er nur konnte, und er tat es, aber nichts konnte ihn mehr retten, man ging an ihm vorüber. Versuche, jemandem die Hungerkunst zu erklären! Wer es nicht fühlt, dem kann man es nicht begreiflich machen. Die schönen Aufschriften wurden schmutzig und unleserlich, man riß sie herunter, niemandem fiel es ein, sie zu ersetzen; das Täfelchen mit der Ziffer der abgeleisteten Hungertage, das in der ersten Zeit sorgfältig täglich erneut worden war, blieb schon längst immer das gleiche, denn nach den ersten Wochen war das Personal selbst dieser kleinen Arbeit überdrüssig geworden; und so hungerte zwar der Hungerkünstler weiter, wie er es früher einmal erträumt hatte, und es gelang ihm ohne Mühe ganz so, wie er es damals vorausgesagt hatte, aber niemand zählte die Tage, niemand, nicht einmal der Hungerkünstler selbst wußte, wie groß die Leistung schon war, und sein Herz wurde schwer.“
Franz Kafka, Ein Hungerkünstler
Ich habe Hunger. Gib mir eine Kartoffel!
Die Inflation nimmt im Deutschen Reich 1923 an Fahrt auf. Der Lebensstandard fällt schnell unter das Existenzminimum. Hunger! Hunger!! Hunger!!! Und warum, was war passiert? Das Deutsche Reich kann seine Reparationszahlungen aus dem 1. Weltkrieg nicht mehr bezahlen. Es wird schnell viel Geld nachgedruckt und verfällt. Das kaputte Reich muss natürlich nach dem Krieg auch (teuer) wieder aufgebaut werden und hat durch Kriegsanleihen Schulden beim Bürger. Es fehlen schlicht Devisen, um Lebensmittel in anderen Ländern einzukaufen. In den Großstädten wird die Lage besonders eng. Es ist nicht genug Nahrung für alle vorhanden. Die Bevölkerung reagiert mit Unruhen und es kommt sogar zu Plünderungen. Menschen werden nicht mehr satt. Es kommt zu „Hungeraufständen“. Der Hunger wirkt grauenvoll. Hunderte Menschen sterben pro Tag im Deutschen Reich. Das Hauptnahrungsmittel dieser Zeit ist die Kartoffel. Vor dem 1. Weltkrieg kostete das Kilogramm 15 Pfennige. Im Januar 1923 28 Mark, im Juni 333 Mark, Ende November 1923 80 Milliarden Mark. Der Verkauf von Kartoffeln findet unter Polizeischutz statt. Schon im Februar 1923 sind die Hälfte aller Kinder unterernährt. Auf einer HUNGER-MEDAILLE von 1923 wird auf die Not hingewiesen. Abgebildet ist eine hungernde Familie mit Umschrift „Des deutschen Volkes Leidensweg“. Auf der Rückseite finden wir die Inschrift: „Am 15. Nov. 1923 kostete 1 Pfund Brot 30 Milliarden – 1 Pfund Fleisch 900 Milliarden – 1 Glas Bier 52 Milliard.“ Die Menschen müssen das Geld für den Wocheneinkauf mit einer Schubkarre transportieren. Hyperinflation. Viele verlieren ihre gesamten Ersparnisse. Inflation. Hyperinflation. Am 15. November 1923 findet eine Währungsreform statt. Es wird die Rentenmark eingeführt, vorher gab es die (Gold)Mark.
Hungern als Kunst.
Im Jahr 1922 wird die Franz-Kafka-Geschichte vom Hungerkünstler erstmals veröffentlicht. Das Foto, das wir häufig von Dichter selbst sehen, wirde 1923 aufgenommen. Wer sind nun diese Hungerkünstler und Hungerkünstlerinnen? Die Jahrmarktsattraktionen touren durch Europa und lassen sich vom Pöbel beim Hungern zuschauen. Das Spektakel soll und darf nie länger als 40 Tage dauern. Aber natürlich versuchen sich die Herren und Damen gegenseitig zu übertrumpfen. Und sie schummeln erst nur ein wenig, später recht häufig.
Es ist in der Bevölkerung gemeinhin nicht bekannt in den 1920er Jahren, dass der Körper „fasten könne“. Deshalb werden die Hungerkünstlerinnen fast göttlich wahrgenommen, die Bevölkerung fasziniert sich für diese, mensch bestaunt sie wie im Zoo. Zunächst werden die Hungernden in einen Käfig auf einem öffentlichen Platz gesetzt. Jeden Tag wird auf kleine Tafeln geschrieben, welcher Hungertag gerade ist. Spätere Hungerkünstler werden in einem Glaskasten eingesperrt und streng bewacht.
Die Kunst des Hungerns war erst ein Phänomen der Jahrhundertwende. Durch die Inflation jedoch erlebte sie ab 1923 eine Renaissance. In Leipzig beispielsweise tritt 1926 der Hungerkünstler Harry Nelson (alias Reinhold Timer) auf. Später wird vor dem Leipziger Schöffengericht verhandelt: „Timer wollte 45 Tage hungern. Am 32. Tage kam auf, daß der Hungerkünstler durch längere Zeit in der Früh Biomalz zu sich genommen hatte, das ihm vom Wärter Müller zugesteckt worden war. Timer wurde zu zwei Jahren, zwei Monaten Gefängnis und Müller zu einer Woche Gefängnis verurteilt.“
nähre mich. ich verhungere. beschütze mich. ich hungere. fülle mich. ich verhungere. in mir macht sich eine leere breit. sie wächst und wächst. wie ein furunkel. sie schmerzt und schmerzt. wie der gebrochene knochen. ich krampfe. ich kann nichts mehr sehen. ich erblinde. ich habe hunger. mein körper bläht sich auf. blitze im kopf. ich ver-rücke. nähre mich. fließe durch meinen schlund. in mich hinein. wärme mich. hilfe. ich verhungere. mein geist oszilliert. ich werde panisch. ich habe solchen hunger. komm endlich wieder zu mir. in mich. ich reibe mich auf. gedanken schwirren. um dich. es existiert nur noch mein hunger. nach dir. ich ver-rücke mehr und mehr.
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