Istanbul (Oktober 2015)
Posted by Antje Kröger Photographie on Nov 11 2015, in Mensch, Welt
Ich kam an im Mittagsregen und weinte,
ich ging mit morgendlichen Regenschauern und weinte wieder. Nach fast zwei Wochen Istanbul kehrte ich zurück in (m)ein Leben mit noch mehr Fragen,
mit noch mehr Neugier, mit neuen Freunden;
aber vor allem mit dem wichtigen Hinweis, dass das Leben noch so viel mehr sein kann, wenn man es zulässt.
gewidmet Sinan, Wladimir & Aritz
There is an english version of words from my journey to istanbul, too … klick here.
Istanbul stand nicht wirklich auf meinem Reise-Wunsch-Plan 2015. Auch im Herbst wollte ich wieder nach Israel, Orte besuchen, die ich im Mai nicht geschafft hatte zu sehen. (Meine Israelbilder findest Du hier.) Aber im Mai gab es vielleicht doch schon einen Hinweis auf einen baldigen Besuch in Istanbul. Mein Rückflug von Tel Aviv nach Berlin fand bei großartigem Wetter statt und so konnte ich da bereits dieses Wasser aus dem Flugzeug heraus sehen & fühlen, den Bosporus und die beiden Meere, das Schwarze Meer und das Marmarameer. Ich weiß noch, dass ich mir vor ein paar Monaten die Nase am Flugzeugfenster platt drückte, Istanbul erschien mir schon aus der Höhe so gewaltig, das Wasser, die Moscheen, all die anderen Gebäude… Fünf Monate später flog ich wieder über die Stadt, diesmal im bedrückenden Regen und nur die Schiffe auf den Wassern machten mir aus dem Flugzeug heraus Freude.
Bis vor ein paar Wochen erschien mir eine Reise nach Israel & Palästina im Herbst richtig. Doch dann – immer mehr Kämpfe zwischen Juden und Palästinensern, immer mehr Tote, vor allem auf palästinensischer Seite, Unruhen in der Altstadt von Jerusalem. Ich bin kein sehr ängstlicher Mensch, aber in dieses Pulverfass wollte selbst ich nicht reisen zu diesem Zeitpunkt. Ich verschob meine Pläne und erinnerte mich an den Bosporus. Es war wieder einmal das Wasser, das die Entscheidung erleichterte. Später wurde mir klar, dass Istanbul nicht nur eine Alternative war, sondern zu diesem Moment in meinem Leben passte. Die Beschäftigung mit dem Islam, mit der Kultur des Orients, die baldigen Wahlen und die Flüchtlingssituation in der Türkei, gefühlte hunderte von Gesprächen, die tägliche Dosis Wasser und Sehnsucht, der Wechsel zwischen Sonne, Wind & Regen (noch nie hatte ich so einen intensiven Wetterherbst erleben dürfen) machten die Stadt richtig für meinen Oktober 2015. Dass einen Tag bevor ich in Berlin abflog, der Anschlag in Ankara stattfand, bei dem sehr viele Menschen ums Leben kamen, hatte ich erst richtig auf dem Schirm, als ich schon in Istanbul war. Facebook beispielsweise war deshalb in der gesamten Türkei in seiner Geschwindigkeit gedrosselt, weil noch niemand genau wusste, welches die Hintergründe der Tat waren. Es war spannend für mich, die Berichterstattung in den deutschen Medien zu lesen und vor Ort die Meinungen und Gespräche der Einheimischen wahrzunehmen. Die Kluft war immens.
Jeden Tag sah, roch und spürte ich das Wasser. Und ich sah Delphine im Bosporus, wirklich!
Es regnete in Strömen, als mein Flugzeug in Istanbul landete, es sollte an diesem Tag auch nicht mehr aufhören. Es war Sonntag und es war mein Geburtstag. Eine Stunde später spuckte mich der Flughafenbus am Taksim-Platz aus, ich wurde umringt von plappernden Taxifahrern, die mich nach meinem Ziel fragten und sich mit ihren „besten“ Angeboten überschlugen. Ich suchte ein Taxi aus und fuhr mit dem stummen Fahrer das erste Mal durch die imposante Stadt, über Brücken, durch Gassen; irgendwann standen wir endlich vor meiner Herberge. Es dauerte ewig, bis wir das mit der Bezahlung regeln konnten. Der Taxifahrer gab mir mit Händen und Füßen zu verstehen, er könne nicht wechseln. Ich kratzte eine Mischung aus Lira und Euro zusammen und gab sie ihm. Am Abend stellte sich heraus, warum er meinen Schein nicht wechselte: ich hatte nun eine 100-Lira-Kopie in meiner Geldbörse, die mir der stumme Fahrer untergejubelt hatte. Die Taxifahrer von Istanbul und die Touristen, die sie übers Ohr hauen, hunderte solcher Geschichten kann man hören. Wer auf Nummer sicher gehen will, sollte immer das Nummernschild des Taxis aufschreiben, darauf bestehen, dass der Taxameter eingeschaltet wird und möglichst passend zahlen. Ich wollte an diesem Sonntag jedoch einfach schnell in mein Bett, ich hatte zwei Tage nicht geschlafen, war unvorsichtig und zahlte das eben mit dieser Geldscheinkopie, die nun als Glücksbringer in meiner Geldbörse steckt.
Begrüßt wurde ich in meiner Herberge in der Altstadt Istanbuls von Sinan – in perfektem deutsch mit schwäbischen Flair in der Stimme. Wir redeten ’ne ganze Weile und tranken Kaffee. Ich wusste schnell, dass dies ein guter Ort für mich sein wird. Ich schloss den verrückten Türken sofort in mein Herz und auch jetzt, wieder in Deutschland, schreiben wir uns, denn es fühlt sich an, als wenn ich dort, in dieser Herberge einige Menschen getroffen habe, die nun meine Freunde sind. Ich machte einen kurzen Spaziergang durch die Nachbarschaft der Herberge und verschwand dann schnell in mein Bett.
An diesem ersten Abend in der Ferne weinte ich, an meinem Geburtstag, allein in dieser Regenstadt. Doch die Tränen, sie waren schnell getrocknet. Am nächsten Tag begrüßten mich Sonne und die Einwohner Istanbuls mit ihrem strahlenden Lächeln.
Fotografisch war ich wieder „relativ“ leicht bepackt, diesmal hatte ich zwar einen digitalen Spiegelreflex-Body dabei, aber kein einziges „neues“, schweres Objektiv. Alle meine „Reise“-Objektive haben viele Jahre auf dem Buckel, Fotografieren ist Fotografieren, keinerlei Automatik, ich entschleunigte meinen Blick, ließ mir Zeit bei der Suche nach Motiven. Ich bin gar nicht unglücklich darüber, dass das ein oder andere Bild nicht so scharf ist, wie ich es gewohnt bin… und: ich erwische mich dabei, dass ich auch jetzt, wo ich zu Hause bin, immer wieder die „alten“ auf die Kamera schraube, weil es sich richtiger anfühlt.
Meinen zweiten Tag verbrachte ich ausschließlich am und auf dem Wasser. Ich fuhr mit einigen Fähren in verschiedene Richtungen und ließ mich treiben. Später fiel mir auf, dass ich nicht einmal einen Stadtplan dabei hatte, um nachzuschauen, wie ich wieder nach Hause finden würde. Ich brauchte tatsächlich auch ein paar Tage, um mich nicht mehr zu verlaufen. Am vierten oder fünften Tag verstand ich die Stadt. Doch noch war ich völlig fremd und gespannt, wo mich die Winde hinpusten würden.
Ich kaufte mir die Istanbulcard für die öffentlichen Verkehrsmittel und schipperte erst einmal ein paar Stunden über das Wasser – von der europäischen Seite der Stadt auf die asiatische und wieder zurück. Ich landete schließlich irgendwo und erkundete dieses Plätzchen Erde.
Schnell traf ich Mehmet. Erst fotografierte ich ihn nur aus der Ferne. Aber es zog mich zu ihm. Er hatte so eine elegante Art, auf den Steinen zu sitzen und war so vertieft in das Lesen seiner Zeitung. Ich stellte mich höflich vor und fragte ihn, ob er englisch könne. Er erzählte mir in gebrochenem Englisch von seiner Stadt und lächelte mich ununterbrochen an. Ich gab ihm schließlich mein kleines Notizbuch, damit er seinen Namen aufschreiben konnte. In diesem Notizbuch war ein Fotostreifen aus einem Berliner Foto-Automaten mit meinem Gesicht. Er lächelte und fragte mich, ob er ein Foto davon behalten dürfe. Ich konnte ihn gerade noch stoppen, den Streifen zu zerreißen. Wenn, dann wollte ich ihm alle Fotos schenken. Er freute sich so und bat mich, meinen Namen auf die Rückseite zu schreiben. Das letzte „Bild“, dass ich von Mehmet sah, zeigte ihm beim Küssen eines Fotostreifens aus Deutschland. Ich lächelte.
Nach dieser Begegnung setzte ich mich zusammen mit vielen anderen Menschen an das Ufer des Wassers und genoss stundenlang das Treiben der Wellen, die Sonnenstrahlen und die verschiedenen Menschenseelen. Lange beobachtete ich beispielsweise die Taubenfrau, die nicht genug davon bekommen konnte, die Vögel zu füttern oder das Mädchen neben mir, das auf der Mauer hockte, Musik hörte, auf das Wasser schaute. Das Licht brach sich wunderbar in ihren Haaren und ich dankte dem Zufall dieses Tages, dass ich an diesem herzlichen Platz gelandet war.
Zeit. Zeit war so anders. Die Menschen schenkten mir ihre Zeit, wenn sie irgendwo saßen, standen, schauten. Die Stadt ist langsamer als ich erwartet hatte. Warten war nicht mühsam. Pausen sind wichtig. Begegnungen sowieso. Die Menschen reden, rauchen, schauen auf das Wasser, essen, trinken Tee, reden, auch mit Händen und Füßen und lächeln, oft. Sie sind so viel höflicher als ich es von meinen Straßen zu Hause gewöhnt bin. Jedes Mal wurde mir in der Tram ein Platz angeboten, setzte sich jemand neben einen anderen Passagier, wurde sich begrüßt. Übrigens ist mir diese Höflichkeit auch bei meinen Flügen „passiert“. Beide Male saß ein türkisches Ehepaar in seinen siebziger Jahren neben mir. Ich wurde begrüßt und verabschiedet und zwischendurch mit Bonbons versorgt.
Der nächste Tag war kalt und regnerisch. Mit Kopftuch und Strickjacke bewaffnet, startete ich trotzdem eine Bosporustour. Der Herbst ist verrückt in Istanbul, von heute auf morgen verändert sich das Wetter von Hochsommerlichkeit, die zum Sonnenbrand führt, zum ungemütlichen Herbst mit jeder Menge Regen. So auch an diesem Tag. Aber ich liebte diesen Platz dafür. Für die Launenhaftigkeit und diese Stimmungswechsel. Ich kaufte mir geröstete Kastanien, nahm auf dem Deck eines Bootes Platz und ließ mir gehörig Wind um die Nase wehen. Abends beobachtete ich die Angler von Eminönü, die geschmückt mit ihren Regenponchos auf der Galatabrücke standen und ihre Angeln auswarfen. Es war schon fast dunkel, die Fische bissen.
Gefühlt ist Istanbul für mich die Stadt der Männer und der Katzen. Überall Ansammlungen von beiden. Die Männer entweder mit Tee und Zigaretten in den Händen, Füße waschend vor den Moscheen oder angelnd auf den Brücken oder an den Ufern, die Katzen oft fressend oder auf der Suche nach Futter. Tiere im spannenden Istanbul, fast zoo- ähnlich, die Katzen, Hunde, Möwen, Fische, Tauben, Quallen, Störche, Schafe und so weiter und so fort. Mein Freund Sinan erzählte mir, dass es in der Stadtverwaltung von Istanbul Beamte gibt, die sich um die Gesundheit der Vierbeiner (Hunde & Katzen) kümmern. Sie sorgen beispielsweise dafür, dass alle Straßenhunde gechipt, geimpft und katalogisiert werden, für die Katzen wurden an verschiedenen Stellen der Stadt Katzenhäuser und Wasserbehälter aufgestellt. Vereinzelt gibt es auch Tierheime.
Die Katzen sind die große Liebe dieser Stadt oder diese Stadt ist die große Liebe der Katzen, beides stimmt. Manche sind so unsagbar schön, andere hässlich wie die Nacht, viele jung, fast alle schlank und geschmeidig. Ich bin keine Tierfreundin, nein anders, ich bin keine Haustierfreundin. Während meiner Zeit in Istanbul hatte ich so oft einfach nur Spaß am Katzenviech, manchmal verbrachte ich Stunden mit ihm, es versüßte mein Warten, so oft. Die Istanbuler kümmern sich um ihre Katzen und wie, viele von ihnen bekommen gut klingende Namen, ich glaube sogar die meisten. An vielen Stellen liegen ausgebreitete Zeitungen mit frischem Fleisch oder Fisch, auf Bordsteinen oder Mauern platzieren die Menschen Leckereien, sie teilen ihre Snacks oder Sandwiches. Die Bewohner der Stadt lieben ihre Katzen sehr, wollen aber nicht mit ihnen zusammen wohnen, deshalb leben die Menschen in ihren Wohnungen und die Katzen auf der Straße. Für mich fühlte sich das die ganze Zeit richtig an.
Die Hunde sind oft groß und liegen sich-sonnend gerne auf großen Plätzen oder auf den Treppen der Moscheen herum. Sie bekommen mehr Aufmerksamkeit von den Touristen als von den Einwohnern Istanbuls. Der Hund gilt im Islam als unreines Tier, alles, was von seiner Zunge berührt wurde, muss danach siebenmal gewaschen werden. Muslime halten keine Hunde im Haus. Es gelten folgende Hadithe (im Islam die Überlieferungen der Aussprüche und Handlungen des Propheten Mohammed sowie der Aussprüche und Handlungen Dritter, die er stillschweigend gebilligt hat):
- Ibn Abbas berichtete: „Ich hörte Abu Talha sagen, dass der Gesandte Allahs Folgendes sagte: „Die Engel betreten keine Wohnung, in der es einen Hund bzw. ein Bild und / oder eine Skulptur gibt.“ (Hadith sahih bei Buchari, dtsch. Ausg., Nr. 3225)
- Abu Huraira berichtete, dass der Gesandte Allahs sagte: „Wer einen Hund hält, dem werden sich täglich seine (guten) Taten um einen Teil verringern – ausgenommen davon ist der Hund, der zum Zwecke der Landwirtschaft und der Schafshütung gehalten wird.“…Abu Huraira berichtete ferner, dass der Prophet sagte: „… ausgenommen davon ist der Hund, der zum Zwecke der Jagd und der Schafshütung gehalten wird.“ (Hadith sahih bei Buchari, dtsch. Ausg., Nr. 2322)
Quelle: Wikipedia
Die Kinder auf den Straßen erlauben sich oft Späße mit den phlegmatischen Vierbeinern, sie pfeifen so lange bis diese völlig verwirrt und ängstlich Schutz bei Touristen suchen. Außerdem sind die Hunde natürlich wie auch all das andere Getier beliebte Fotomotive.
Die Männer waren mir gegenüber immer höflich und aufmerksam. Ich hatte keinerlei Probleme als alleinreisende Frau. Ganz im Gegenteil, ich habe diese Mehraufmerksamkeit genossen, ob es der angebotene Platz in der Tram oder auf der Fähre war, die geschenkten Tassen Kaffee oder Tee oder einfach nur das kurz ausgetauschte Gespräch auf der Straße. Weder hab ich mich jemals belästigt gefühlt, noch als Frau verachtet oder eben nicht geachtet. Zur türkisch-istanbulischen Frau hatte ich wenig Kontakt. Darüber habe ich bis jetzt gar nicht wirklich nachgedacht, es war aber so. Wenn, dann war sie alt oder sehr alt. Fatma begegnete ich vor der Neuen Moschee. Sie setzte sich neben mich, um ihren Dürüm zu essen und danach in Ruhe zu rauchen. Fatma ist 78 Jahre alt und kann weder lesen noch schreiben (vorbeigehende Passanten halfen mir, ein wenig mit ihr zu plaudern). In Istanbul und der restlichen Türkei trifft man viele Menschen jenseits der 70, die Analphabeten sind. „Schuld“ sind unter anderem Atatürks Reformen. 1928 ersetzte er beispielsweise die arabische Schrift durch die Lateinische. Einige Türken konnten diesen Wechsel aus den verschiedensten Gründen wohl nicht mitmachen. Wer war Attatürk? Ein General, Gesellschaftsreformer und Gründer der Republik Türkei (29. Oktober 1923).
Die Reformen von Mustafa Kemal Atatürk haben einen tiefgreifenden sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Wandel erreicht, der die Türkei bis heute prägt. Durch ihn wurde aus dem Sultanat erst ein Kalifat und dann eine Republik. Die Abschaffung des Kalifates war die zentrale Maßnahme aller Reformen, weil sie den Grundstein zur Trennung von Staat und Religion legte. Diese Trennung wurde später als der „Laizismus“ der Republik bezeichnet. Im Übrigen ist es spannend zu recherchieren, welche Länder dieser Welt noch die Trennung von Staat und Religion praktizieren, in Europa sind es wenige, aber beispielsweise Frankreich, Portugal, Tschechien, Kosovo – Deutschland natürlich nicht.
Während der Reformen in der Türkei in den 1920ern und 1930ern wurden Rechtssysteme aus europäischen Ländern übernommen und den türkischen Verhältnissen angepasst, 1926 wurde das Schweizer Privatrecht und damit die Einehe, das Scheidungsrecht und die Gleichstellung von Mann und Frau übernommen, es folgten das deutsche Handelsrecht und das italienische Strafrecht, am 11. Dezember 1934 bekamen Frauen das aktive sowie passive Wahlrecht, 1925 wurde die islamische Jahreszählung durch die christliche Zeitrechnung abgelöst und es gab eine Hut- und Kleiderreform. Zehn Jahre später trat dann der Sonntag als arbeitsfreier Tag an die Stelle des den Muslimen heiligen Freitags. Außerdem wurde das metrische System eingeführt. Als Amtssprache wurde die osmanische Hochsprache der Eliten durch die türkische Volkssprache abgelöst. Am Ende des durchgreifenden Reformprozesses stand eine Änderung des Namensrechts: Jeder Bürger der Türkei wurde zur Annahme eines Familiennamens verpflichtet. Quelle Wikipedia, gekürzt.
Die Reformen wurden von der Mittelschicht der Türken angenommen und gelebt. Die Bevölkerung auf dem Lande und in den Dörfern war aber weitgehend traditionell islamisch geblieben. Während meiner Reise traf ich fast ausschließlich Türken, die ihren Atatürk sehr lieben, sein Abbild ist in Istanbul an so vielen Stellen, Plätzen zu sehen, oft neben der Fahne der Nation. Doch die jüngsten Wahlen vom 1. November zeigen auch, dass es gesellschaftliche Schichten und Strömungen gibt, die einen anderen Weg fordern, einen viel unfreieren, dogmatischen, konservativen. Vielleicht mag nicht jeder gern mit Freiheit umgehen? Vielleicht sind manche Formen von Tradition einfach zu tief verankert im sozialen und kulturellem Leben? Vielleicht ist Macht nur mit Unfreiheit kombinierbar? Ich habe mich sehr verliebt in die Stadt und in das Land, will viel mehr davon sehen in Zukunft, die jüngsten politischen Entwicklungen, die ja bereits 2013 ihren Anfang nahmen mit den Unruhen auf dem Taksim-Platz, beunruhigen mich, wie viele meiner nun türkischen „Freunde“ auch.
Eyüp
Mein Tag in Eyüp fühlte sich ganz leicht, ganz historisch und sehr menschlich an. Der islamisch geprägte Stadtteil am nördlichen Ende des Goldenen Horns ist am „schönsten“ erreichbar mit der Fähre und der Ausblick vom Loti-Hügel ist trotz der vielen Selfie-Touristen famos.
Als ich von der Fähre an Land ging, verschlang mich die Historie und der dörfliche Charme dieses Stück Landes. Eyüp gehört zu den ältesten Stadtteilen von Istanbul, überall riecht es nach Geschichte, ob auf dem Friedhof (ich fuhr mit der Standseilbahn auf den Hügel mit dem Cafe Piyer Loti und spazierte über den Friedhof hinunter zur Eyüp-Sultan-Moschee) oder auf dem Platz vor der Moschee. Ich hatte schon viele Moscheen gesehen, einschließlich der Blauen Moschee, ich wohnte ja schließlich um die Ecke, aber bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht das Bedürfnis, eine auch von innen anzuschauen. Das war an diesem Tag anders. Vielleicht auch durch das Gespräch mit Ahmet, der vor der Moschee im Koran las und mich ansprach. Er erzählte mir von seinem Glauben, über die Riten im Islam, auch von seinem Leben. Ich verlor die Scheu oder was auch immer mich davon abgehalten hatte, eine Moschee zu betreten, setzte mein Kopftuch auf, das ich immer dabei hatte und ging hinein in die Moschee, kletterte die enge Steintreppe hinauf, um zum Betraum der Frauen zu gelangen. Sofort wurde ich verzaubert vom schönen Licht, dem bunten Haufen Frauengestalten und der Atmosphäre, die dort herrschte. Es wurde sogar telefoniert und Kinder sprangen und tanzten. So hatte ich es mir nicht vorgestellt. Ich war froh.
Vorher, während meines Spaziergangs über den Friedhof, las ich alle Tafeln, die an der Friedhofsmauer angebracht waren. Auf einer davon stand:
Herkes GÜLÜN, GECENIN ve DOSTUN
Güzelini ister.
Önemli olan gülü DIKENIYLE,
Geceyi GIZEMIYLE,
Dostu tüm DERDIYLE,
sevebilmektir …
Everybody wants the better of
ROSE, NIGHT and FRIEND,
The important thing is
To love the rose with its THORN,
The night with its MYSTERY.
Später als ich vor der Moschee saß, frittierte Kartoffelscheiben auf einem Holzstäbchen aß und die Menschen beobachtete, hatte ich eine „moderne“ Begegnung an diesem traditionellen Fleck Erde, die mich heute immer noch lächeln lässt. Neben mir, auf meiner Bank saßen zwei Frauen Anfang 20, beide mit Kopftuch bekleidet. Eine von beiden fing an, ihr noch sehr kleines Baby zu stillen, in der Öffentlichkeit, vor der Moschee, die ganze Szene nur verdeckt durch ein dünnes Tuch. Ich fragte die Frauen, ob dies normal sei und beide lachten und sagten gemeinsam: „Oh no!“. Ich ging zurück zur Fähre, traf die drei badenden Jungs, es war früher Abend, es war kühl und sie sprangen wie wilde Tiere durch den Springbrunnen.
In der Nachbarschaft
Die Blaue Moschee, die Hagia Sophia, der Topkapı-Palast, der Große Basar – alle großen Sehenswürdigkeiten Istanbuls konnte ich von meiner Herberge zu Fuß erreichen. Manchmal spazierte ich an ihnen vorbei, beobachtete die Touristen oder die Einheimischen, die dort arbeiten. Aber ich besuchte keine. Sie interessierten mich gerade einfach nicht. Ich schaute mir nach meinem Besuch der Moschee in Eyüp noch eine kleine Moschee in der Nachbarschaft an, das reichte mir. Viel spannender fand ich es, morgens einen frisch gepressten Orangensaft in einem Restaurant mit wunderbarer Dachterrasse zu trinken. Weil mittags erst andere Gäste kamen, hatte ich oft den Blick und die Sonne für mich alleine.
Balat und Fener
Die Straßen sind bunt, die Häuser auch, überall hängt Wäsche auf den Leinen, Kinder spielen auf der Straße, Katzen und Vögel liefern sich interessante Spielchen. Balat. Ich traf dort zwei spielende Jungs. Sie waren keck und wie. Ich mochte das. Sowieso mochte ich diesen Teil der Stadt sehr. Kaum Touristen, mir wurde eine Menge Aufmerksamkeit geschenkt, z. B. traf ich auf eine Horde Männer, die mich fragten, woher ich komme. Ich antworte und auf einmal sprachen alle deutsch mit mir. Es waren Roma und die meisten von ihnen waren schon in Berlin gewesen, arbeitend, lebend, musizierend, ich weiß nicht mehr genau. Alles wuselte und auf einmal standen Musikanten vor mir und spielten für mich. Ach das war schön. Überhaupt hat es dort so furchtbar sehr gemenschelt, so viele Türen standen offen, so viele Menschen baten mich zu sich herein. An diesem Tag redete ich mit Händen und Füßen, so dass ich am Abend ganz erschöpft war. Dieser Platz in Istanbul war mir der liebste, nach all‘ den wunderbaren Wasserplätzen.
Dort in Balat gibt es ein wunderhübsches Café, nur wenige Plätze, dafür der beste Kaffee, den ich in Istanbul trinken durfte (während ich meinen Kaffee schlürfte, drückte ich die Aufnahmetaste meines Handies, so klingt es in Balat.) Erst war nur das bunte Mädchen da, das mir den Kaffee servierte, später kam ihr Vater dazu, ihm gehört dieses Kleinod. Das Mädchen und ihr Vater sprachen nur türkisch, weil sie aber noch mehr von mir erfahren wollten, rief die Schöne per Skype ihren Onkel in Deutschland an, damit er dolmetschen konnte. Tochter und Vater saßen mir gegenüber, auf dem Tisch lag das Smartphone mit dem deutschsprechenden Verwandten, der für uns übersetzte. Das war ein großer Spaß. Ich streifte danach noch lange durch die Straßen bis in den nächsten Stadtteil Fener. Fener ist wie ich mir Paris vorgestellt hatte, bevor ich das erste Mal in Paris war. Ganz viele kleine, emotionale Cafés, die Musik läuft von Plattenspielern, die Wände voller Dinge aus anderen Zeiten. Katzen auf Stühlen und Tischen. Wie eine Zeitreise. Ich fühlte mich so deplatziert und doch so wohl. Ich entdeckte einen Flohmarktladen, dann entdeckten mich die Ledertasche und der folkloristische Rock.
Die kleinen Begegnungen
Ich bin vielen Menschen(seelen) begegnet. Der Nachbarin aus dem verfallenen Holzhaus, der Fensterdame mit Hund, der rauchenden Alten vor dem pinken Haus, Kindern, so vielen Kinder. Am liebsten denke ich an die sechs Schwestern aus der Nachbarschaft. Sie sangen und spielten auf der Straße an einem Sonntag und waren zwischen zwei und zehn Jahre alt. Alle stellten sich mit Namen bei mir vor, aber ich habe leider keinen davon behalten. Sie liebten es von mir fotografiert zu werden, sie fühlten sich frei und leicht an.
Büyükada (Prinzeninseln)
Sie ist die größte der Prinzeninseln vor Istanbul auf der asiatischen Seite der Stadt. Früher dienten die Inseln als Exil (z . B. auch von Leo Trotzki), die Istanbuler erholten sich dort, mittlerweile sind sie ein Touristenmagnet. Die Fähre braucht nicht ganz eine Stunde bis zur Inselgruppe, es gibt vier bewohnte Inseln. Auf Büyükada kann man Fahrräder oder Pferdekutschen mieten. Aber es ist auch ganz spannend, den Fleck Erde zu Fuß zu entdecken und hinter die Fassade des Tourismus zu schauen. Ich streifte umher, ich hatte keinen Plan und auch kein Ziel, nur weg vom überfüllten Hafen. Es war sommerlich heiß an diesem Tag Ende Oktober und ich genoss die Atmosphäre von Erholungsort in den Nebenstraßen der Insel. Ich bestaunte die wunderschönen Häuser und die bunten, großen Gärten. Die einheimischen Kinder hatten gerade Schulschluss und rannten durch die Straßen. Ab und an rauschten Pferdekutschen an mir vorbei.
Irgendwann stand ich mitten auf einem riesigen Platz, dutzende dieser Kutschen, wiehernde Pferde, ein Höllengestank. Der Pferdeparkplatz. Dort blieb ich eine Weile. Ich schaute beim Beschlagen der Pferde zu und beobachtete das „Geschäft“ hinter den „schönen“ Kutschfahrten für Touristen.
Auf der Rückfahrt stand ich fast ausschließlich an der Reling und beobachtete die Möwen, die von den Touristen gefüttert wurden. Da sprach mich Nooral aus Kuwait an. Sie hatte mich schon auf der Insel beim Fotografieren beobachtet, sagte sie mir. Erst plänkelte unser Gespräch so dahin, sie erzählte, dass sie Anwältin sei. Doch auf einmal drehte sich der Wind und sie fragte mich, woran ich glaube. Ich sagte ihr, dass ich an keinen Gott glaube. Sie schaute mich an, es war mittlerweile dunkel geworden, und sagte, dass sie immer anfangen möchte zu weinen, wenn sie einen „ungläubigen“ Menschen treffe. Ich erwiderte darauf, dass sie losweinen könne, jetzt. Sie lachte. Dann begann sie mir von ihrem Islam zu erzählen. Ich hörte wirklich aufmerksam zu. Irgendwann drückte sie mir ihr Smartphone ans Ohr, jemand las oder besser sang aus dem Koran, ich verstand natürlich nichts, ließ mich aber dennoch darauf ein, vor mir wehte die türkische Flagge mit dem Halbmond, am Himmel leuchtete ein anderer Halbmond, es wehte ein gehöriger Wind, das Wasser wellte laut und ich fühlte die Besonderheit der Situation, nichts Spirituelles, aber es passte alles so zueinander.
The Host Istanbul
Dieser Ort mit seinen vielen intensiven, weit gereisten, beseelten Menschen hat diese Reise zu etwas werden lassen, das ich niemals vergessen werde. Sinan, der Türke, der in Süddeutschland geboren wurde und aufgewachsen war, fließend mehrere Sprachen spricht, kocht mit seiner türkischen Seele, über Religion, Politik und Frauen und die ganze Welt philosophiert, gute Musik zu schätzen weiß und mir so viele gute Dinge sagte während vieler Tage. Wladimir, der verrückte Russe aus Wladiwostok, der auf Eurodance steht. Dabei dachte ich wirklich, dass dies so ein blödes Vorurteil gegenüber den Russen sei, aber nein, aber nein. Ich sah Wladimir danach tanzen, übrigens auch nach Dieter Bohlen und Modern Talking. Das war ein großer Spaß. An diesen Abenden im Host, wo wir Musik hörten, Wein und Bier tranken, redeten in so vielen verschiedenen Sprachen. Wladimir, der ehemalige Lehrer, gestrandet in Istanbul, suchend, nach einem neuen Platz für sein Leben. Ich habe ihn sehr in mein Herz geschlossen. Da war diese russische Melancholie in seiner Seele. Wir führten viele Gespräche über unsere Vergangenheiten in Russland und der DDR. Er erzählte von seiner Heimat und seinen Reisen nach Asien, und ich schmunzle noch heute über seinen Humor, der an vielen Stellen wahrscheinlich ungewollt zu Tage trat.
Dann war da Ilona, wir haben fast nie miteinander geredet, da mein Russisch einfach viel zu schlecht für eine gute Konversation ist. Eines Tages jedoch hielt sie mir ihr Smartphone unter die Nase und zeigte mir ein Bild einer russischen Gräfin und lächelte mich an und sagte, ich sehe aus wie sie oder sie wie ich. Sie hatte recht. Kurz lernte ich Ismail kennen, einen türkischen Reiseführer. Er erzählte von seinem Land und seinem Job, so charmant, so witzig, viel zu kurz war unsere Begegnung. Auch das Treffen mit der Architektin Tatjana war viel zu flüchtig, bald jedoch wird sie in St. Petersburg leben, und ich sie hoffentlich dort wiedersehen. Spaß machte mir auch eine kleine Reisegruppe aus Kasachstan, die während meiner letzten Tage im Host zu Gast war. Die Kasachen erzählten stolz über ihre Heimat, zeigten mir ihre Geldscheine, verrückt, die sind nicht horizontal gestaltet, sondern vertikal und in den hübschesten Farben anzuschauen. Einer davon gesellte sich schnell in meine Geldbörse neben den falschen Lira-Schein. Ich könnte diese Liste an Menschenseelen weiter führen, aber das soll an dieser Stelle reichen.
Nein, da war noch Aritz, der Baske. Er kam gerade aus dem Iran nach Istanbul und wollte zuerst eine Nacht bleiben, daraus wurden vielleicht fünf oder sechs, ich weiß nicht mehr genau. Aritz schenkte mir neue Augen, nein, neue Gläser für meine Augen. Wir redeten so viel über die Welt, über Religionen, Kriege, das Reisen, den Geschichten aus dem Leben. Jetzt, wo ich wieder hier bin, hier in meiner Welt, fehlen mir diese Gespräche, die Türen zu den Zauberplätzen dieser Welt, das Verstehen all‘ der Zusammenhänge. Ich hab’s so sehr gemocht mit ihm, unsere Abende zusammen mit Wladimir und Sinan waren und bleiben besonders.
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[…] verschiedene Kulturen, aber nur eine Zivilisation, die europäische.“ Dieses Zitat stamm von Atatürk, dem Gründer der türkischen Republik. In meinem letzten Reisebericht über Istanbul habe ich auch […]
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[…] die Stadt. Legen danach wieder den Weg über die Seilbahn zurück, um meinen Freund A. zu treffen. Ihm begegnete ich 2015 in Istanbul. Seitdem hatten wir losen und nichtlosen Kontakt, dachten an uns, kommunizierten… bis er, der […]
T.
Sehr schön zu lesen,Frau Kröger.Und dazu hast du noch ein paar echte Fotokracher mitgebracht.Unterm Strich würde ich auch sagen: gut,dass
du diese Reise gemacht hast.Und gut,dass du deine Erfahrungen teilst.
T.
Frank U.
Hallo Antje,
schön erzählt. Man fühlt sich dem Geschilderten sehr nahe. Und deine Bilder sind der Hammer. Besser kann man Reiseeindrücke/-erlebnisse wohl kaum wiedergeben. Du hast da eine tolle Gabe. Egal ob SW oder Farbe, deine Fotos sind sehr persönlich. Ich mag das.
LG Frank
Dietmar
Liebe Antje,
deine Bilder sind einfach zauberhaft. Die Du die Menschen, das Leben, die Athmosphäre mit deinen Bildern herüber bringst, begeistert mich. Da möchte ich am liebsten gleich wieder hin.
Ich werde Dich weiter beobachten und habe Dich auch bei fb angeklickt.
Liebe Grüße
Dietmar
Werner
Wunderbar inspirierend. Danke!