Antje Kröger | Fotokünstlerin

Genua – das Tor der ganzen Welt (August 2020)

Posted by on Nov 18 2021, in Mensch, Welt

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Dies ist die Webversion unseres Reiseberichtes über Genua. Ausführlich in Bild und Schrift & gedruckt bald in unserem neuen Reiseentführer.

Unsere bisher erschienenen Reisentführer sind hier.

Text: Tobias Crain // Fotografie: Antje Kröger


Genua ist ehrlich. Gnadenlos ehrlich, wenn sie ihren Gästen zur Begrüßung mehr Ratten vor die Füße schickt, als Menschen vor die Augen. Sie hat eine gezierte Ehrlichkeit, die versteckt. Die das, was doch auf der Hand liegen sollte, erst nur in kleinen Dosen und Ausschnitten zeigt, den geduldigen Gästen, dann aber doch alles gibt, was sie sich vorgestellt haben und dann noch viel mehr.

Visionär ehrlich, wenn es die Durchmischung von Menschen zeigt, die Europas Zukunft prägen wird, prägen muss. Es ist jeglicher Hautton vertreten. Worte etlicher verschiedener Sprachen schwirren durch die Luft. Es gibt Clans, Familien groß und in klein, Einzelgänger, freiwillige und dazu gezwungene, es gibt die Gutbetuchten und die Bettelarmen, die Aufgetakelten und die lässig, kaum Bekleideten, Paare und Gruppen, durchmischte und klar aufgeteilte.

Genua ist ehrlich mit seiner ach so glorreichen Vergangenheit, die unwiederbringlich vorüber ist und der sie nachtrauert, aber die sie nicht davon abhält, sich so zu zeigen, wie sie ist, die alte Superba, der alte Glanz längst vergangen. Dafür mit neuem Glanz überzogen, der dem alten überhaupt nicht nahe kommt, der aber eben ehrlich ist. Der staubig ist, trocken. Spröde. Rissig durchaus. Aber ehrlich. Der rohe Glanz von heute. Der sich durchmischt mit dem Alten, der Bitteres verarbeiten muss. Schmerzhaftes. Tragisches. Der seine Farben unterm Staub blitzen lässt, wenn die Strahlen der Sonne sie treffen und die Schweißperlen der Menschen, die Salzkristalle des Wassers, sie reflektieren die Strahlen und blitzen ins blinzelnde Auge, womit der rohe Glanz doch noch richtig glänzend wird.



Ein Platz, der von superb weit entfernt war

So müde, dass es sich selbst im Stehen ganz umstandslos einschlafen ließe, von der Umgebung, den Umständen oder der außergewöhnlichen Situation aber so in Anspruch genommen, dass die ganze Müdigkeit wie aufgelöst schien und alle Sinne so geschärft, wie eine frisch geschliffene Guillotine, das kennt man ja. 5:20 Uhr in Genua. Im Osten kämpfte sich schon ein leichter, heller Schimmer an den Himmel, über uns war noch tiefes Mitternachtsblau. Es war Sonntag und auf den Bänken, die den Platz säumten, auf dem wir uns gerade drehten, saßen Gestalten, von denen nicht auszumachen war, ob sie die letzten der Party waren oder die ersten auf dem Weg zur Arbeit. Ein müdes Gesicht pro Person.

Unsere eingerosteten Knochen und Gelenke schleppten wir vorwärts, weg vom Platz, hin zu einem ruhigen Lager, um die durchreiste Nacht abzuschütteln. Eine Hochstraße hatte ihren Verlauf über unserem Fußweg. Die alte Dame mit der Genua so oft verglichen wird, zeigte sich hier nicht von ihrer charmanten Seite. Eher von der Seite, die seit Tagen nicht gewaschen wurde. An deren Schenkelinnenseite Pissetropfen getrocknet waren, in deren Schambehaarung sich schon kleine Tierchen sammelten und wo Fusseln von Tampon und Reste vom Toilettenpapier an der Haut klebten. Ihre Falten waren voller Schwärze, und die wenigen Stellen, wo Licht hinkam, wirkten im Zwielicht ausbesserungswürdig. Mindestens. Wenn nicht gar beerdigungsreif.

Ich hatte mich in erwartungsvoller Vorfreude auf den erwachenden Tag in Genua gefreut, nun aber, nach einer nahezu schlaflosen Nacht im Bus und eingehüllt in den Genueser Hafenduft, weiß ich nicht mehr wirklich, was real und was Halluzination war.

Müde und zerknirscht schleppten wir unsere Körper und unser „leichtes Gepäck“ vorwärts und versuchten trotzdem so viel wie möglich an Eindrücken aufzunehmen. Noch immer waren wir unter der Hochstraße und neben der anderen Straße, die auch noch da war. „Jetzt links abbiegen“, sagte die Stimme aus dem Smartphone, endlich kamen wir von diesen beiden Ungetümen weg. In eine schmale Gasse bogen wir ein, in ein anderes Ungetüm, ein älteres, geheimnisvolleres, ungleich schöneres. Von Straßenlaternen punktuell beleuchtet, liefen wir von einem Lichtfleck zum nächsten, auch hier, ein Rattenschwanz, der sich in einen Abfluss verschlängelte. Deswegen aber nicht Ungetüm, das Ungetüm war die labyrinthische Altstadt, der Kern des historischen Genuas.

Historisches Genua im sonntag-morgendlichen Halbdunkel. So schön es klingt und wie mystisch sich die Vorstellung auch angehen mag, so irrig waren wir unterwegs. Des Handys GPS-Signal kam in den engen Gassen entweder nicht an oder nicht klar. Wohin wir auch gingen, dem Ziel näher kamen wir nicht. Mal ging es über flache Stufen bergan, dann wieder um die Ecke an einer Kirche entlang. Mal führte der Weg über einen winzigen Platz, an dem sich verschiedene Häuserecken trafen, dann wieder wurde die Strecke ums Doppelte länger.

Eine minimale Unstimmigkeit in der Abstimmung unserer Ankunftszeit ließ uns vor verschlossener Tür stehen. Kein Klingeln, kein Anruf, nichts konnte uns beim Vermieter Gehör verschaffen. Weitere Optionen waren sehr dünn, in einer Phase der Resignation schwer ein klarer Entschluss zu fassen. Ein Café aufsuchen, um sich von einem Espresso die Müdigkeit wenigstens etwas nehmen zu lassen, fiel aus, überall waren die Jalousien noch unten und die Stühle oben. Der Fußweg zum Bahnhof zu weit. Dort hätten wir die Rucksäcke in ein Schließfach packen wollen. Mit hängenden Köpfen quälten wir uns durch die Gegend. Zwischendurch an jeder Unterkunft, die wir passierten, nach einem freien Zimmer fragend. Abgewiesen überall. Sie seien schon „complett“… Wie Aussätzige tingelten wir von einer Rezeption zur nächsten, keine Gnade nirgends. Leuchtete in einer Straße ein Schild und versprach ein Hotel/Hostel/Apartment, steuerten wir es an. Unmerklich damit auch den Hafen. Bis wir wieder „unten“ waren, am Wasser und unter der Hochstraße, direkt vorm Meeresmuseum, für das Genua bekannt ist. Mit Laubbläsern bewaffnete Straßenreiniger pusteten dort den Müll zusammen und machten auch vor Bänken nicht Halt, auf denen Gestalten sich ausgebreitet, die es die Nacht über nicht geschafft hatten, sich eine Bleibe, eine Schlafstatt zu suchen oder einfach Gestalten des Morgens waren. Wir mitten unter ihnen. Wie wir die Gedanken und Pläne würfelten, kann ich nicht wiedergeben. Schlussendlich stand fest, an einen Strand zu fahren , um dort den Tag zu verweilen bis wir in unser Zimmer Einlass bekommen würden.

Noch aber saßen wir. Alles, was noch an Reiseproviant vorhanden war, verleibten wir uns ein. Wäre die Situation nicht so resignativ, es wäre ein schöner Ort zu einer schönen (wenn auch ungewöhnlichen) Zeit in angenehmer Atmosphäre gewesen. Wie immer, im Nachhinein, war er das auch. Die Sonne schickte ihre ersten Strahlen über die Berge hinaus aufs Meer. Die Luft war noch kühl, nicht so drückend heiß und stickig wie sie später aufgeheizt von den eben erwähnten Strahlen sein sollte. Der Tag, ein Sonntag wohlgemerkt, entfaltete sich langsam aus der Finsternis der Nacht in den flirrenden Wochenabschluss, an dem Gott, hätte er in dieser Woche die Welt erschaffen, sich sowieso nur auf die faule Haut hätte legen können. Bis auf Antje war keine einzige Frau auf der ganzen Piazza. Das waren die nur männlichen Begleiter bei unserem erstem Kontakt mit dem Mittelmeer. Nicht mit dem Richtigen, natürlich, war doch nur die Hafenbrühe zu sehen, wabernd mit Federn, Müll und anderen Kleinigkeiten versetzt, zwischen Bootsrümpfen, an selbige klatschend. Der Hafen von Genua, der Porto Antico, lässt durch seine natürliche Kreisform den Blick vor dem Bigo sitzend nicht aufs offene Meer zu. Nur durch eine relativ kleine Öffnung laufen die Boote auf die offene See aus. Auch den Leuchtturm sahen wir von unserer Position aus noch nicht. Er stand versteckt hinter dem Bigo. Ein Wahrzeichen der Stadt hinter einem anderen. Der-die-das Bigo ist eine… Ja was eigentlich? Eine Skulptur? Ein aus dem Meer auftauchender Krake, der seine Arme steif gen Himmel reckt? Es war nicht klar auszumachen, was es war und sein sollte. Dennoch fügte es sich gut ein, wie ich fand. An einem der „Arme“ war eine nach oben zu ziehende Gondel, von der aus über Genua zu blicken war. Vereinzelt standen auch hohe Masten mit oben angebrachten segelartigen Windmühlenflügeln, die sich träge im leichten Wind drehten. Gebäude gab es einige zu sehen. Dafür musste später Zeit sein. War es auch, denn an jedem Abend zog es uns wieder hierher, nach unten, in das Herzstück von Genua. Hier sollte sich Abend für Abend alles an Ethnien, Formen und Farben in der Stadt ansässiger, zugereister und sich hierher geretteter einfinden und den Tag ausklingen lassen.

Rechter Hand lag noch ein Piratenschiff. Lag da einfach, konnte besichtigt werden. Ist was für Kinder. Ergab sonst keinen Sinn. Außer, dass ein Schiff im Hafen liegt. Einziger Sinn dieser Installation.

Der erste Strand

An Schlaf war nicht zu denken. Es galt zu beobachten, wie sich der Strand um uns herum füllte, es gab das Panorama hinter uns zu bestaunen, es musste der Brandung gelauscht werden, das Licht, das italienische Sonnenlicht musste erspürt werden und dann wollte, sollte und musste in das Mittelmeer eingetaucht werden.

Es waren langsame Stunden, die da vergingen, auf den heißen Steinen unter bratender Sonne. Ganz sicher waren wir die einzigen Touristen im Umkreis. Kein Mensch war so weiß wie wir „Nordeuropäer“. Teilweise gab es sogar richtig ungesund gebräunte, meist ältere Menschen, die die Farbe von Grillhähnchen hatten. Ständig wurde gecremt, ununterbrochen geraucht, geplappert in zwangloser Lautstärke. Die Boys von der Liegenvermietung, es waren bestimmt acht, waren hart am Posen und Grüßen, eine gute Zeit haben und sich die langen Haare aus dem Gesicht streichen. Die Familie vor uns führte ihr Neugeborenes in seinen ersten Tag am Meer ein. Kinder wurden am Arm entweder bremsend zum Wasser geführt oder zerrend wieder heraus und zum Liegeplatz geschleift. Vereinzelt zogen krumme Händler an den Liegen vorbei und boten Uhren, Sonnentücher, Badeutensilien und anderes feil.

Die Sonne stieg stetig höher und zwang mich, endlich in das Mittelmeer zu waten. Das Salz ließ das Wasser dickflüssig erscheinen. Lauwarm wie es war, konnte ich ohne anzuhalten und den Bauch einzuziehen oder sonstige softe Gebärden, geradewegs bis auf Schultertiefe hineinstolpern. Und dann schwamm ich im Mare Nostrum, dem europäischen Grenzmeer im Süden. Ich schwamm so weit nach draußen, wie ich konnte. An einer, zwischen Bojen gespannten, Schur hielt ich mich fest, Algen wehten zwischen meinen Fingern und ich drehte mich zum Land zurück um. Für meine unbebrillten Augen war ich schon zu weit von der Küste entfernt, alles war verschwommen, unscharf und ging ineinander über. Stückweise schwamm ich zurück, schwungweise griff mich eine Welle und trug mich Stück für Stück dem Strand entgegen. Allmählich setzten sich die verlaufenen Gegenstände wieder zusammen und entwickelten scharfe Kanten. Ein schönes Panorama empfing mich wieder. Vom tiefsten Punkt, Augen 25 Zentimeter über dem Meeresspiegel, war der ganze Müll, der sich durch die Stadt oder über Teile des Strandes zog, nicht zu sehen. Wahrlich, das war ein Italien, wie es mir gefallen könnte. Was es dann ja auch tat, noch immer tut. Kein Müll und kein seltsamer Geruch trübt heute, ein halbes Jahr später im deutschen Winter, die Erinnerung an diese Stadt in diesem Land.

Hintenrum kam dann etwas Weggeschwemmtes wieder. Aus dem Nass gestiegen, ließ ich den leichten Wind und die Sonne die letzten Tropfen Meerwasser von der Haut zutschen, kurz darauf schlug sie zu. Die Müdigkeit, die olle Xanthippe! Sie übermannte uns abwechselnd doch noch. Auf der Liege kam ich zum Erliegen, der Sonnenschirm blieb statisch an seinem Fleck. Die Sonne schob sich überlegen lächelnd am Himmel weiter, fand unschattierte Hautstellen, die ihr ausgeliefert waren und verbrannte sie eiskalt. Mein Erwachen kam durch die Erweckung, die meine rote und spannende Haut mir bescherte. Des Oberkörpers rechte Seite war noch nicht verkohlt, aber nur wenige Minuten davon entfernt. Die nächsten Tage würden also von einem konstanten rechtslastigen Schmerz begleitet sein, sobald ich ein T-Shirt tragen oder auf dieser Seite zum Liegen kommen sollte. Die Chuzpe oberkörperfrei umher zu stolzieren, hatte ich nicht. Dann lieber versteckt den Schmerz ertragen. Gehässig wedelten die Sonnenschirme unisono mit ihren Fransen…

In eine gefühlt gänzlich andere Welt traten wir, als wir dabei waren, den Strand zu verlassen und den Weg zu unserem Appartement anzugehen. Wie eine unsichtbare Wand gab es eine Trennlinie am Strand, die wir überschritten, als wir zum Ausgang strebten. Fast konnte man sich in Marlen Haushofers Roman versetzt fühlen („Die Wand“). Da war eine Wand, hinter der die Elenden lagen und auf die Welle warteten, die die Pest namens Leben in die Verwandlung in die Schatzinsel in Gang setzte. Zwar sind wir morgens hier schon durch geschritten, nur waren da die Unterschiede noch nicht zu erkennen. Hier war ganz klar der Arme-Leute-Abschnitt. Erstens gab es keine Liegen oder Schirme, ergo keinen Schatten. Zweitens war hinter dem Strand ein, … ich würde es mal als Wasserloch bezeichnen, in dem sich Möwen und Müll die Hand gaben. Direkt daran tummelten sich die Menschen auf ihren Handtüchern, wie sie hier überall dicht an dicht saßen, der prallen Sonne ausgeliefert. Einige hatten Schirme dabei, die meisten nicht. Hier ebenfalls, Müll. Wo kein Mensch saß, wo kein Badetuch lag, dort sollte der Kies des Strandes zu sehen sein, doch statt dessen: Müll.

Es war drückend heiß, noch viel mehr oben auf der Straße. Die Sonne stand in einem Winkel, der sie genau ins Wartehäuschen strahlen ließ. Die Wartenden an der Bushaltestelle suchten hinter dem kleinen Verschlag Zuflucht und Schatten. Glücklicherweise blieb uns eine lange Wartezeit erspart. Die Fahrt und der Marsch, ein einziger Taumel.

Genua soll im restlichen Italien ja auch immer mal wieder mit Afrika gleichgesetzt werden. (Neben ganz Süditalien) Warum? Um das zu erahnen, mussten wir schon morgens keine 1000 Meter laufen. Dunkelhäutige Menschen machen fast 50 Prozent der Menschen auf der Straße aus. In großen Gruppen scharen sich Männer lautstark um Würfel- oder Kartenspiele auf dem Boden, allein sitzen immer wieder Menschen und schauen mit sehnsüchtigen Blicken den Passanten nach, auf den Lehnen der Bänke sitzen Frauen, die jeder Person mit längerem Haar zurufen, dass sie diese zu Zöpfen flechten würden, ganz kostengünstig.


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Genua – das Tor der ganzen Welt (August 2020)
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Genua – das Tor der ganzen Welt (August 2020)

Genua ist eine Stadt der Höhenunterschiede. Sie zu Fuß zu begehen, kann für Flachlandeuropäer wie wir es sind, beschwerlich werden. Auch wenn wir uns im Schatten bewegten so gut es ging, an die vormittags schnell steigenden Temperaturen mussten wir uns noch gewöhnen. Nach vorn gebeugt stiefelten wir eine Straße entlang die auf ein mächtiges Gebäude zuführte. Was ein wirklich mächtiges Gebäude in Genua bedeutet, das wussten wir noch nicht so genau.

Die Altstadt Genuas, die in all ihrer schäbigen Pracht noch so gut erhalten ist, dass sie von der Unesco zum Weltkulturerbe ernannt wurde, ist ein Teil der Stadt, der, wenn der Vergleich mit der alten Matrone von unserer Ankunft nochmal herhalten muss, für die zerknitterte, wilde Jugend der Dame steht. Am Hafen stehend und nach oben, zur hinaufwachsenden Stadt, blickend, schauen nur hohe, gerade und streng abweisende Häuserfronten zurück. Kaum ein Weg scheint hineinzuführen. Zwischen den Gebäuden befinden sich zwar schmale, in die Dunkelheit führende Gassen, die aber nichts Einladendes ausstrahlen. Ein Cinquecento passt vielleicht noch hindurch, aber ohne seitliche Außenspiegel. Manchmal können nur zwei Personen nebeneinander gehen. Ist man außen vor, ist man außen vor. Es stellt sich die Frage, lohnt es sich, da einzudringen, erwünscht scheint man nicht zu sein. Wie in die Jugend der sinnbildlichen alten Dame, da kommt man ja ebenfalls nicht mehr hinein. Ist dieses Abweisende allerdings einmal überwunden und der Besucher ist in diesem Gewirr aus Gassen, Straßen und Wegen gefangen, dann fühlt es sich an, als gehöre man dazu. Dann verschwindet das Trutzige und die Läden, Restaurants, die Menschen, alles wirkt so, wie es von draußen nicht vorstellbar schien. Aber das geht nicht im Handumdrehen. Erstmal gilt, bist du außen, bist du draußen, fühlst dich abgewiesen. Bist du drin, fühlst du dich auch noch außen vor, abgewiesen. Weitergehend ist es nicht einfach aus eigener Kraft und gewollt wieder herauszukommen, der Wille danach verfliegt auch, je mehr eingetaucht wird. Eingesogen vielmehr. Je nach Sonnenstand, fällt Licht von vor oder hinten in die Gassen oder sie sind selbst am helllichten Tag so finster wie ein Abgrund. So tief sind sie jedenfalls auch. Gebirgsschluchtengleich beim Durchschreiten, links ziehen sich Steinmauern nach oben, dasselbe rechts und unter den Fußsohlen ebenfalls Steine. Nur oben, da ist blauer Himmel. Aber Licht? Fehlanzeige. Nur eine Tageshellichkeit fällt indirekt ein. Überwinde die ersten Minuten in dieser Altstadt, gehe die ersten Meter und lass dich vom Sog der Dunkelheit mitziehen, einziehen, vielleicht sogar verschlucken. Es ist die Schönheit im Banne der Dunkelheit.


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Genua – das Tor der ganzen Welt (August 2020)
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Camogli

Ankommen mittags, 12.00 Uhr. Der Ort verlassen. Fensterläden zu. Geschäfte geschlossen. Sonne drückend. Luft flirrend. Menschen wenige. Und die träge.

Vom Bahnhof aus ging man ganz automatisch nach unten. Erstmal weg von der Sonne, dann hin zum Meer und damit zu einer leichten, salzigen Brise. Nur abwärts wollten die Füße laufen, die Körper nicht schon wieder bergan schleppen. Taten wir ihnen also den Gefallen und folgten ihnen hinab, immer nur hinab. Gelegentlich fanden unsere Füße doch Geschäfte, deren Inhaber den Fehler begangen haben, ihre Jalousien doch nicht herabgelassen zu haben und steuerten in die dunkle Kühle.

Die Menschen fanden wir dann auch noch. Alle unten am Wasser. Am Strand. Am Hafen. In den Gaststätten und Freisitzen. Im Schatten. Die Suche nach Essbarem gestaltete sich demzufolge auch ausgesprochen diffizil. Wenn Plätze unbesetzt waren, waren sie in der prallen Sonne. Wenig anderes blieb uns übrig, als die ganze Promenade abzulaufen. Menschen gab es zuhauf hier unten. Alle, die nicht die Restaurants bevölkerten, räkelten sich auf ihren Handtüchern am Strand. Dort war auch für uns erstmal ein Plätzchen frei. Auf einer Bank in der Sonne. Tauchten wir also in die Atmosphäre vor Ort ein. Rechter Hand ragte das Castello della Dragonara auf. Auf der linken Seite unseres Sichtfeldes begrenzte ein Berg die Bucht, der wie magnetisch auf Wolken wirkte. Kaum dass wir saßen, verfingen sich Wolken (oder war es nur Dampf?) um seine Anhöhe und blieben dort, solange auch wir in Camogli und in Sichtweite des Hügels waren. In unserem Rücken stapelten sich wieder Häuser, diesmal in Form von Hotels, den Hang hinauf. Die Sonne vertrieb uns dann doch vom Platz und der große Andrang in den Restaurants war auch vorüber, sodass wir einen Platz fanden.

Jedes Haus eine eigene Persönlichkeit. Kaum in Reihe, immer waren da kleine Lücken zwischen ihnen. Manchmal erwartete den Blick das Wasser mit seinem hellen Blau, dann wieder ein anderes Gebäude, das irgendwie in einem anderen Winkel stand. Liegt das an der italienischen Seele oder an der Landschaft, in welche diese Bauten gestellt werden? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass es dem Auge des Betrachters nie langweilig wird, wenn er den Blick schweifen lässt. Es ist verständlich, dass sich die Menschen hier sammeln. Immer dort, wo es schön ist. Europa war noch immer halbwegs im Griff einer Pandemie, auch wenn der Sommer eine kurze (wie sich später zeigen sollte, trügerische) Verschnaufpause war, und es gab bestimmt einige Menschen in Europa, die nicht wie sonst üblich ihren Urlaub antraten, Ligurien also nicht die Ehre ihrer Anwesenheit erwiesen, waren es doch zu viele Menschen an diesem sonst bestimmt noch traumhafteren Ort. Wie es wohl hier mal ohne Touris ist? Noch schöner, na klar. Unbebauter, na klar. Idyllischer, aber hallo. Am Ende gäbe es vielleicht auch etwas Platz für die tierischen Küstenbewohner, denn Tiere, die nicht Kulturfolger sind, haben hier keinen Platz mehr. Zuviel Beton, zu viel Mensch. Um dem ganzen Trubel zu entfliehen, (und um unsere Rückfahrgelegenheit per Schiff einzutüten) gingen wir die lange Mole entlang. Auf der Mauer saßen und lagen die Sonnenanbeter, in ihrem Schatten lagen die, die richtig wegschlafen und unverbrannt aufwachen wollten. Vor der Mauer stapelten sich riesige Felsbrocken aus dem Wasser, um die Brandung zu brechen. Auch darauf sonnenbraune Menschen mit wenig Bekleidung. Die Sonne brannte! Erbarmungslos! Fast kam es uns so vor, als wäre sie über Nacht abgesackt und stünde etliche tausend Kilometer tiefer, näher an der Erde.


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Staglieno

Ein Ort der Trauer. Aber die Sonne veranstaltet ein Happening am Himmel, bei dem einem das Gemüt gar nicht schwer werden konnte. Aber so war es ja jeden Tag. Wir stürzten in die Endlosigkeit dieses Ortes. Denn endlos, wie der Tod wirkte alles dort. Endlose Arkaden. Links wie rechts gesäumt von bis zu sechs Urnenkammern. Unter den Sohlen Grabplatten unter denen weiter Gräber liegen. Durch die runden Fenster über den Bögen dringt das Licht nur gedämpft. Die Schritte hallen wider, genauso wie die Flügelschläge der vielen Tauben, die durch die Gänge flattern und fliegen. Namen über Namen an den Platten. So viele. Und das ist nur der Anfang. Der Gang wird länger und länger. Am Ende deutet sich eine Biegung an. Ewig zieht sie sich. Hin und wieder kommt man zwischen den Fächern an einer Skulptur vorbei. Sie thronen über einem Sarg. Mutter, Kind, Kreuz. Immer wieder. Noch immer sind wir am Anfang. Keine 30 Minuten im Gang. Ein weiterer Gang verläuft parallel. Noch immer kratzen wir nur an der Oberfläche dieses Todesortes. Dieses Todesmolochs.

An einem der Über- und Ausgänge verlassen wir die Arkaden und kommen über ein großes Gräberfeld. Hier dürfte es sich um den schmucklosesten Teil des Friedhofs handeln. Nur Grabsteine. Aber sobald man an die Begrenzungen des Feldes stößt, unterläuft man wieder Arkaden. Dort sind erste richtige Ausläufer dessen, was Staglieno so berühmt macht. Skulpturen und Statuen en masse. Nicht nur in Masse, auch in Schönheit, in Besonderheit, in Ausgefallenheit ist es bestechend, was das Auge zu sehen bekommt. Es entwickelt sich ein regelrechter Sog, ein Taumel, der so lange vorhält bis einem das alles zu viel wird. Solange ist ja alles nur schön, bis es zu viel wird. Und dann, wenn es genug ist, wird man blind für die Schönheit. Dann ist die Schönheit für das Auge vergangen, obwohl noch immer in ihrer Unermesslichkeit genauso vorhanden wie für das ungesättigte Auge. Davor, natürlich, waren auch wir nicht gefeit. Aber immer wieder gab es Monumente, die uns aus dieser gesättigten Blindheit rissen. Auch gegen Ende unseres Besuches noch, als wir der Sonne, der Weite und der Erschöpfung Tribut zollen mussten, gab es immer wieder Gräber, die aufrüttelten und neugierig machten. Was aber am meisten in unsere Knochen fuhr, war ein Busfahrer, der einen kleinen Bus über den Friedhof fuhr. Aufgrund der Ausmaße der Ruhestätte fährt ein Minibus die Eingänge und Hauptwege ab.


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Genua – das Tor der ganzen Welt (August 2020)
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Genua – das Tor der ganzen Welt (August 2020)

Es soll ja um die Stadt gehen, weniger um mich, doch muss ich sagen, dass ich ja schon ein Fan von Museumsbesuchen bin. Andere Reiseteilnehmerinnen nicht ganz so. Meine Erinnerung verweigert mir den Zugang zum Hergang des Ausscheidungsverfahrens, welches der Genueser Museen wir besuchen würden an diesem letzten Tag vor der Abreise. Sicher spielte Caravaggio eine Rolle und bestimmt auch der Albrecht, der Dürer. Weniger sicher die ganze Keramik und die alte genuesische Numismatik. Die Textilgeschichte von den tollen Stoffen auch nicht so wirklich. Angeschaut haben wir uns das alles natürlich trotzdem. Nie kann mensch wirklich wissen, ob nicht doch in einer Vitrine doch mal was lauert, das einen doch einfängt oder wenigstens abholt. Also bei der Keramik war nichts dabei. Bei den Münzen auch nicht. Bei den Stoffen, ähhh, auch nichts. Aber von den Gemälden… Moment, ihr wisst ja noch gar nicht welche Museen wir ansteuerten überhaupt. Es trieb uns in die Prachtstraße Via Garibaldi und dort in die Musei di Strada Nuova. Dort erwarteten uns Bilder aus der Genueser Schule, eine ganze Reihe davon. Darum ging es ja hauptsächlich, um etwas mit Genua. Da kam dann in einigen der Räume ein Maler auf uns zu, der zu einigen Gedanken Anstoss gab. Bernardo Strozzi. Zuerst waren da die ohrschmeichelnden Namen der Gemälde in seiner Muttersprache. Der Pifferaio, der Flötenspieler. Oder La cuoca, die Köchin. Die Köchin, die den Blick des Museumsbesuchers keck, etwas herausfordernd erwidert. Ein Blick, der ihrer Position in der Küche damals nicht erlaubt gewesen sein dürfte. War das Zubereiten der Speisen doch den Männern vorbehalten. Das weibliche Geschlecht war zum Rupfen und Ausnehmen verdammt. Zumindest in aristokratischen Küchen soll das der Fall gewesen sein. Ganz anders hingegen ist der Blick des Flötenspielers. Seine großen Augen treten unter der Anstrengung, mit der er in seine Piffero bläst, hervor, auf der Stirn wellen sich die Falten. Trotz der Anspannung im Gesicht liegt in den Augen doch eine kleine Wehmut, ein in die Ferne schweifen. Zwei Bilder, Handwerk und Muse. Die Muse im Handwerk und Handwerk, welches ohne Muse nicht zu Vollendung kommt. Aber da wollte ich gar nicht hin. Vielmehr wollte ich auf die Punkte hinaus, die jeden Tag unserer Wege kommen, ob zufällig oder gewollt und dann doch wieder zufällig, weil nicht abzusehen. Und wie diese Punkte an die man kommt oder an denen man vorüberzieht, sich in Bewegung setzen und zu Linien werden, zu Verbindungslinien und Kreuzungen, sich überschneiden und treffen mit anderen Punkten, die in unseren Leben schon passiert und berührt wurden. Kleines Beispiel gefällig? Vor den Gemälden von Bernardo Strozzi stehend, lesend eine Liste zwischen ihnen, bedruckt mit schwarzer Tinte, hinweisend auf seine weiteren Arbeiten und ihren Aufenthaltsort. Dort fällt auf, dass sein Gemälde Porträt des Dichters Giulio Strozzi in Antjes Geburtsstadt Güstrow hängt. Im Schlossmuseum dort. Schon wird aus einem unbedeutenden Punkt eine Verbindungslinie. Vielleicht wurde die kleine Antje im Kinderwagen durch das Schlossmuseum geschoben und streifte da schon Strozzi und ganz vielleicht war Strozzis Werk ein ganz kleiner Baustein auf dem Weg zum späteren Kunstsinn der Dame Windhauch? Zugegeben, das ist etwas konstruiert, aber im Bereich des Möglichen läge es. Die Verbindung Strozzi – Güstrow besteht. Die Komponente Antje war da von ’76 bis ’89 nicht weit entfernt. Oder nehmen wir die Kapuziner, deren Orden Strozzi eine zeitlang angehörte. Die Kapuziner kenne ich eigentlich nur trocken mit pergamentner Haut. Aus der Gruft in Brno, die wir vor drei Jahren besuchten. Nun lese ich hier, Strozzi – Kapuziner. Seit drei Jahren war Funkstille zwischen mir und den Kapus. Jetzt wieder alles da. Die kühle Gruft im Herzen Brnos, Freiherr von Trenk in seinem gläsernen Sarg, ruhend, nach seinem wilden Leben, leidend unter seinem wilden Gemüt. Wieder verbindet Strozzi einen Punkt aus der nicht so fernen Vergangenheit mit dem Genua der Gegenwart. Noch etwas verband diesen Museumsbesuch mit vielen (fast allen) anderen zuvor: wir verloren uns. Fahrstuhl vs Treppe und getrennte Wege gingen sie…


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Zu Italien hatte ich Zeit meines Lebens ein ambivalentes Verhältnis. Als Kind, seit ich wusste, von dort kommen die Nudeln, wollte ich immer nach Italien, nicht um dort Urlaub zu machen, nein, um dort zu leben und Pasta zu verspeisen. Später kam ein Mensch in mein Leben, dem alles (oder vieles) aus Südeuropa sehr suspekt war und der Urlaub dort, aufgrund der angeblichen Aufdringlichkeit der Menschen, kategorisch ablehnte. Mit dieser Person kam Italien als Reiseziel nie ernsthaft aufs Tableau. Aber nicht, dass ich es in dieser Zeit darauf angelegt hätte. Vielleicht hatte ich Italien auch einfach aus den Augen verloren, vielleicht mochte ich nach der Halbfinalniederlage bei der Fussball WM 2006 einfach nicht mehr dorthin. (Heute frage ich mich ernsthaft, warum mich diese Niederlage damals soo sehr wurmte. Sicher ließ auch ich mich damals von der allgemein guten Stimmung im Land, von dem wahnsinnigen Wetter und von der Feierei der Italiener nach dem Sieg in Berlin leiten.) Genua hingegen als Stadt, stand ich immer positiv gegenüber. Als dann Genua Reisethema wurde, war ich nicht gleich Feuer und Flamme, ich bin wohl ein Mensch, der selten sofort Feuer und Flamme ist, aber abgeneigt war ich nie. Ja und nun, wohin deuten wohl diese letzten Sätze? Ja, Genua und Italien konnten ein Feuer entfachen. Es gab so vieles auf der Reise, was bleiben wird. Vieles davon steht in den vorangegangenen Zeilen. Vieles nicht, weil es zu klein und zu nichtig ist oder einfach auch, weil ich es für mich behalten will. Manches auch, und das ist der Grund, warum ich mehr als ein Jahr brauchte, dies alles aufzuschreiben, fühlte sich für mich an, als könnte ich es nicht adäquat be- und umschreiben. Als ginge mir Genua näher als die Städte, die ich vorher bereiste und beschrieb. Hier wollte ich alles ganz besonders machen. Ganz anders erst, dann viel besser, genauer, schillernder. Genua hätte mehr verdient als Brno, Brügge und Budapest, so fühlte sich das an, in mir. Und nun, da sich diese Schreiberei dem Finale nähert, fühlt es sich an, wie krachend gescheitert. Zerschellt mit großen (zu großen) Zielen an der abweisenden Außenfassade der Altstadt. Aber so ist es mit alten Granden, sie lassen sich nicht so leicht erobern oder gar einnehmen. Aber andersherum ist es für sie so einfach, in so großporige Herzen einzumarschieren und dort einen Sitzplatz für alle Zeiten zu beanspruchen. Vielleicht liegt es an diesem trüben, grauem Herbsttag, an dem ich dies schreibe und an dem meine Laune eine ähnliche Farbe hat wie der Himmel, dass mir beim Schreiben dieser Zeilen, die ja auch einen Abschluss markieren, die letzten Minuten, die Tränendrüse drückt. Das hat noch keine Stadt geschafft. Und das zeigt, wo Italien samt Genua jetzt bei mir ist. Ganz tief drinnen.

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