Das Würfelspiel
Posted by Antje Kröger Photographie on Aug 31 2023, in Mensch
„Während sich das Gedächtnis auf die Vergangenheit bezieht, versucht Planung die Zukunft zu gestalten. Dadurch gewinnt die Zeit einen weiteren Aspekt. Man fragt nicht nur „Was wird später passieren, wenn ich jetzt dieses tue?“, sondern auch „Was muss ich jetzt tun, damit später jenes eintritt?“. Es werden also nicht nur die sich aus verschiedenen jetzt möglichen Handlungen ergebenden verschiedenen zukünftigen Entwicklungen analysiert, sondern in der Zukunft liegende Ziele bestimmten die Aktionen in der Gegenwart.“
Auszug aus Leibniz und die moderne Naturwissenschaft, Jürgen Jost
Die Alte liegt auf einer Bank am Rande einer mit Gänseblümchen übersäten satten Wiese. Als ich näher an sie herantrete, setzt sie sich auf, legt beide Hände vor das Gesicht und beginnt zu schluchzen. Innerhalb weniger Momente sind ihre Finger Tränen-nass, es tropft laut auf das Weich der Wiese. Erst wundere ich mich ob der Situation, dann verstört sie mich. Kurz verschlägt es mir den Atem und lang die Sprache. Kein Wort will mehr über meine Lippen kommen. Mein Herz stolpert. Meine Augen füllen sich mit den Wassern der Meere. Mein Sein ist geladen, emotional aufgeladen, durch den Kummer der Alten. Plötzlich schaut sie mich an. Aus dem Nichts erscheint das schönste Lächeln, das meine Augen bisher erblicken durften. Ich schüttele ungläubig den Kopf. „Mein Mädchen, spiel mit mir!“ Ihre Stimme knatternd, aber sanft. Antworten kann ich nicht. Oder will ich nicht? Meine Stimme ist verloren gegangen. Das Wasser aller Meere fließt über meine dicken, roten Wangen. (T nannte mich vor ein paar Tagen seine Matroschka-Tante) ‚Was willst du denn mit mir spielen, Alte?‘, denke ich so bei mir. Schwups, reicht sie mir einen Würfelbecher. ‚Ich hasse würfeln‘, denke ich so bei mir. „Ich weiß“, die Alte lächelt mich weiterhin an. Der Traum von F geistert herum in meinen Gedanken: F und ich hatten im selben Bett geschlafen, dazwischen eine kurze Monats-Zeit. Als wir uns trafen, berichtete er mir von seinem Traum. In diesem sah er mich haarlos und nur noch Perücke-tragend. Dass es kein Traum war, sagte ich ihm nicht. Das Bett hatte sich meine fixe Idee gemerkt und F untergejubelt. Aber ich erklärte es ihm nicht. Er würde sich sorgen.
Die Alte unterbricht meine Gedanken. „Mädchen, nimm den Becher, würfele, denk nicht so viel. Los!“ Würfeln also. Ich ergebe mich ihrem Wunsch. Sie reicht mir einen Becher aus Zinn. Es ist kein Becher, sondern ein Becherchen. Ein Fingerhütchen. „Schau nicht hinein.“ Ihre Stimme jetzt streng. Ich folge. „Schüttele, solange du magst, dann lasse die Würfel einfach ins Gras fallen.“ Gesagt, getan. Ich schüttele. Eine kurze Weile. Dann schütte ich den Becher über dem Gras aus. Die Würfel suchen sich ihren Weg. Die Alte lächelt mich an und stellt zufrieden fest: „20 // 8 // 5“. Ich sehe die Würfel gar nicht. Kann aber keinen Einwand geltend machen. „Besser geht es nun wirklich nicht, mein Mädchen. Du bist eine Gewinnerin!“ Ungläubig schaue ich sie an. Jetzt schluchze ich. Sie zeigt mir ihre zwei Hände. „Zweimal die zehn Finger (zwanzig), dann die Unendlichkeit (mACHT) und schließlich die Summe der ersten beiden Primzahlen (2 + 3) und die kleinste ungerade Primzahl (Fünfe). Hauptgewinn!“
Ich verstehe nichts, dafür läuft mir die Rotze aus der Nase. Was will mir diese merkwürdige Alte sagen mit ihrem Zahlenorakel? „Hör zu Mädchen, ich weiß, du verstehst mich (noch) nicht! Spielen wir ein neues Spiel. Das Spiel heißt: Schalte deinen Verstand aus und fühle.“ Ich will aber nicht fühlen. „Ich weiß, großes Mädchen. Du kannst die Welt vernünftig versuchen zu erklären und zu verstehen und zu leben. Und du kannst sie erfühlen und den Zahlen vertrauen. Dieses Leben ist Wachstum und es geht voran, für dich noch eine ganze Weile. Schau nicht zurück. Die Tränen, sie gehören dir, wie auch deine Sehnsucht. Die Zahlen, sie gehören zu dir und weisen einen Weg. Wünsche dir alles vom Universum. Führe deine Zwiegespräche mit dem Herrn der Zweifel. Er ist da. Er bleibt da. Er liebt dich.“ Ihre Worte knallen an meinen Körper. Wuchtig. Sie erschlagen mich. Ich sinke ins weiche Gras.
„Immer wieder wächst das Gras
Klammert all die Wunden zu
Manchmal stark und manchmal blass
So wie ich und du“ (Gundermann)
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