Venedig (Februar 2018)
Posted by Antje Kröger Photographie on Apr 13 2018, in Mensch, Welt
Das teure Pflaster
Es ist nicht die Entscheidung für Venedig, es ist die Entscheidung für den Karneval, die mich im Februar 2018 nach Italien fliegen lässt. Ein großer Unterschied zu meinen sonstigen Reisen gen Osten ist schnell sicht- und spürbar. In Venedig rinnt mir das Geld durch die Finger, einfach so, ohne große Anstrengung. Alles an diesem Ort ist unsagbar teuer, seien es die Tickets für die Wassertaxis (Wochenkarte 60 Euro, Einzelfahrpreis 17, 50 – der Begriff Taxi ist übrigens missverständlich, die Boote sollten Wassertrams, Wasserstraßenbahnen heißen, in ihnen drängeln sich nämlich zu Stoßzeiten eine Menge Menge Menschen), der Transfer vom Flughafen zur Unterkunft (12 Euro, in Sofia einen Monat später kostet mich das Ticket vom Flughafen zum Hostel knapp einen Euro im Vergleich!) oder die Kugel Eis (bis zu 3 Euro). Für mein Vier-Bettzimmer zahle ich für sechs Nächte 240 Euro, eine Woche Vierbett in Osteuropa liegt bei 50 bis 70 Euro, in Antwerpen ordere ich ein Bett dieser Kategorie für vier Nächte und 90 Euro. Warum die Preise so sind, wie sie sind, schreibe ich später.
Anhand der Preisstruktur lässt sich gut erkennen, wer touristisch Venedig besucht, auch zum Karneval, das sind meist die Alten, die Alten mit Geld. Die Mehrzahl der Besucher ist über 40 Jahre alt, manchmal mit kindlichem, etwas jüngerem Anhang. Jugendliche, Alternative, Hippe, Backpacker sind Seltenheit in den Straßen, Gassen & Gondeln; viele Asiaten rollen ununterbrochen mit ihren Koffern über das Pflaster. Keine Autos in Venedig, dafür der Rhythmus der Koffer-Rollen, das Grundrauschen in der Lagune.
Ich brauche ungefähr drei Stunden, um meine Herberge zu finden, kein mobiles Internet, eine Gasse, die der anderen gleicht, ein Irrgarten von kleinen und großen Brücken und Kreuzungen, das führt bei mir zu Verwirrung. Irgendwann schaffe ich es, auch ich rolle eine bereits dunkle Gasse entlang, am Ende befindet sich mein Zuhause – für knapp eine Woche. Die Tür ist unglaublich gesichert, wie die meisten Pforten in Venedig.
Meine Pension ist einfach, aber sehr pittoresk. Ich wohne zusammen mit Funda (46, Ingenieurin und Lebefrau) aus Istanbul, Sergei (51, Wirtschaftswissenschaftler, Marathonläufer und Dostojewski-Leser) aus St. Petersburg und Shiory (Ende 20, Bankkauffrau und Lindy Hop-Tänzerin) aus Japan, unsere gemeinsamen Weinabende mit Backpflaumen und Käse sind das „Schönste“ und Lehrreichste auf dieser Italien-Reise: ein paar Schnappschüsse von uns haben wir natürlich für unsere Erinnerung gemacht, aber die sind nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.
Ich bin mir sicher, den oder ein oder anderen meiner venezianischen Mitbewohner wieder zu treffen in der Welt. Funda sagt eines Abends so einen schönen Satz: „Eine Deutsche, eine Türkin, ein Russe und eine Japanerin machen Politik hier in Venedig zum Karneval. Ver-rückte Welt.“
Menschen, überall Menschen – mit Hand(y)prothese
Die Touristen nerven mich, vor allem mit ihren Smartphones und dem oft dazugehörigen Selfiewahn. Alles wird abgelichtet, überall wird „drauf-gehalten“ ohne Rücksicht auf andere oder die Reflexion, an welchem Ort man sich befindet. Nicht nur, dass die Handy-Touristen-Menschen häufig im Weg sind, einfach stehen bleiben, sich Platz nehmen oder erkämpfen anstatt zu erfragen, als Straßenfotografin habe ich es mittlerweile an solchen „Spots“ so schwer, selbst zu schauen, einzutauchen und vor allem auch Fotos zu sehen, die das unästhetische Handy nicht beinhalten, von der ständigen (tonalen) Ablenkung mal abgesehen. Wohin soll das nur (im ästhetischen Sinne) führen?
Übrigens bewundere ich die Einwohner Venedigs für ihre stoische Gelassenheit, sie ertragen all‘ das mit eleganter Haltung und so manch‘ spöttischem Lachen. Ich dagegen muss wirklich arbeiten, um die Plätze zu finden, die menschen-leer sind, die für mich gute Geschichten erzählen ohne von der Masse erdrückt zu werden.
Ich werde fündig. Sobald ich in das unbekanntere Venedig hineingleite, fühle ich sowas wie Glück und die Ambivalenz dieser Stadt, sie ist kraftvoll in manchen Momenten und traurig in den anderen. Ich laufe viel, treppauf treppab, ich gehe ins Museum, schaue mir Bilder von Hieronymus Bosch und Francesco Hayez an, denke viel, ahne und fühle. Ich bin viel ruhiger als am Anfang des Jahres, nicht so zerrissen wie die Monate zuvor.
An meinem ersten Abend schlendere ich noch ein paar Momente durch das nächtliche Venedig. Ich treffe einheimische Jugendliche, die mir Gras verkaufen wollen; vor einem Kanal-Späti stehen andere Jungmenschen mit ihren alkoholischen Getränken, rauchend, schnatternd, lachend – ich bin echt froh, zumindest in der Nacht fühlt sich der Ort „normal belebt“ an.
Monster zerstören Kultur(erbe)
Die Stadt ist so alt und an jeder Ecke voller Geschichte. Doch viele laufen einfach nur vorbei an der wunderbaren Historie, vielleicht an den Karnevals-Tagen noch stärker als zu anderen Zeitpunkten des Jahres.
Man stelle sich vor, heute leben in der Stadt 50.000, im 16. Jahrhundert waren es 150.000 Einwohner. Dafür kommen pro Jahr 30.000.000 Touristen, von denen nur 10 bis 20 Prozent überhaupt in Venedig übernachten. Schuld an diesem Massentourismus sind große Kreuzfahrtschiffe, die sich bis jetzt durch die Lagune drängen durften, 500 Monster pro Jahr. Damit soll 2019 endlich Schluss sein, das ist bereits beschlossen. Die Venezianer wollen ihre Stadt vor Touristen schützen, denn durch die enormen Wasserbewegungen wird das historische Pflaster seit Jahren enorm unterspült, es droht ein „Untergang“. Außerdem zahlen die meisten Schiff-Touristen nicht einmal etwas für die Zerstörung: sie steigen aus, laufen zum Markusplatz und ein paar nahen Gassen, machen stolze Fotos – übernachtet, gegessen und getrunken wird wieder auf dem All-inclusive-Dampfer. Das Problem kennen übrigens so manche Städte, an denen die riesigen Kreuzer anlegen, aber kaum ein „Hafen“ ist so nah an einer historischen Altstadt, wie der von Venedig.
Ein weiterer Nebeneffekt des massenhaften Schiffs-Tourismus ist die starke Luftverschmutzung. Irgendwo las ich: Italien ist das China Europas (in Venedig wegen der Schiffe, im Rest Italiens wegen der Autos). Die Unesco hat Venedig übrigens ein Ultimatum gestellt: Falls sie dem Massentourismus nicht Einhalt gebietet, wird die Stadt auf die „Rote Liste“ der gefährdeten Welterbestätten gesetzt.
Gefährdet ist die Stadt auch durch Touristen, die sich nicht zu benehmen wissen. Die Einwohner nennen ihre Stadt manchmal sogar „Veniceland“, weil sie eher einem großen Vergnügungspark als einem historisch geschichtsträchtigen Ort gleicht.
Im Februar halten die Monster Winterschlaf. Drängelnde Touristen kommen dennoch, mit Bus, Bahn & Flugzeug. Wie ich auch. Aber drängeln steht mir zum Glück nicht.
Maskieren, Verkleiden, Fotografieren
Es macht Spaß, sich die kostümierten Männer, Frauen, Kinder anzuschauen, sie zu fotografieren, wenn es gut passt. Es macht genauso Spaß, die emsigen, verbissenen, aufdringlichen Fotografen zu beobachten, die sich die ganze Zeit auf der Pirsch nach Bildern wie wilde Tiere benehmen. Ich mache mir den Spaß, nach meiner Rückkehr, nach Fotos zu recherchieren, die im diesjährigen Karneval entstanden. Was soll ich sagen? Die Ausbeute an Kreativem & Einzigartigem ist sehr gering. Schade. Denn das Sujets des Februar-Venedigs hätte mehr dieser Fotos hergegeben. Dazu musste man sich allerdings auf den Karneval einlassen und nicht nur auf der Jagd nach „guten Fotos“ sein.
Auch ich habe natürlich nicht jeden Tag Lust zu feiern, aber ich habe auf jeden Fall jeden Tag Lust, mit den Menschen zu kommunizieren. Nebenbei esse ich Pasta, Pizza & Eis, schließlich bin ich in Italien…
Ich begegne unter den Torbögen des Markusplatzes einem deutschen Ehepaar aus der Nähe von Berlin. Sie sind barock verkleidet und immer von einer Vielzahl von Fotografen umringt. Dennoch komme ich mit beiden ins Gespräch. Sie sind Rentner, bereits über 70 Jahre alt, besuchen nun schon das dritte Mal Venedig zur Karnevalszeit, um auf historischem Pflaster zu flanieren. Sie genießen die Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil wird, auch wenn es Momente gäbe, die ganz schön nervenaufreibend sind, verraten sie mir. Immer Lächeln ist eben anstrengend. Sie geben mir ihre Visitenkarte, wollen sich mit mir in Leipzig zum Wave-Gothic-Treffen an Pfingsten verabreden. Ich bringe es irgendwie nicht übers Herz, ihnen zu sagen, dass ich diese Veranstaltung verabscheue.
Jüdisches Ghetto
Seit dem 18. Jahrhundert durften die Juden von Venedig überall in der Lagunenstadt leben, damals öffnete das Jüdische Ghetto seine hölzernen Pforten. Dennoch blieben viele, weil sie sich anderen Wohnraum gar nicht leisten konnten. Auch heute wohnen im und um das ehemalige Ghetto Juden. Die Gemeinde hat jedoch nur noch 400 Mitglieder. Mitte des 17. Jahrhunderts lebten dagegen 5.000 Juden im Ghetto, wurden isoliert von den anderen Einwohnern der Stadt. Das ehemalige Ghetto der venezianer Juden erzählt die Geschichte der Sephardim, die aus Spanien und Portugal vertrieben wurden, die Geschichte der Juden, die aus Deutschland flohen, wo sie zu Beginn des 16. Jahrhunderts in vielen Städten verfolgt und vertrieben wurden.
Das Jüdische Ghetto von Venedig war das erste seiner Art, weltweit. Viele Juden arbeiteten außerhalb, dazu durften sie ihr Quartier verlassen, in dem sie auch geschützt waren. Nach der Arbeit mussten sie sofort zurückkehren. Christen durften das jüdische Ghetto nicht betreten. Alles war stark reglementiert, dass hatte es vorher nie gegeben, auch wenn es bereits auch woanders Jüdische Viertel gab. Nachts und an hohen christlichen Feiertagen gab es eine Ausgangssperre, Juden durften keinen Wohnraum kaufen, sondern nur mieten, nur bestimmte Berufe ausüben.
„Die Entscheidung, die Juden an einem geschlossenen Ort wohnen zu lassen, war ein Akt des Ausschlusses. Aber die Juden waren in der Lage wegen ihrer Handelsbeziehungen, wegen ihrer kulturellen Verbindungen, ein sehr viel weiteres Netz zu knüpfen. Zu allererst mit Venedig. Natürlich gab es restriktive und vor allem am Anfang sehr strenge Regeln. Aber zur Geschichte der Stadt gehören auch die Regelverstöße, der Regelbruch. Und das war hier der Fall.“
Eigentlich mussten nachts im Ghetto Türen und Fenster, die nach außen, also nach Venedig zeigten, immer geschlossen bleiben. Doch schon sechs Monate nach der Gründung des Ghettos erhält ein Pfandleiher, der dem Dogen besonders nahestand, eine Ausnahmegenehmigung und damit einen direkten Zugang zum Kanal, über den er jederzeit das Ghetto verlassen konnte. Auch Ärzte durften zu jeder Tages- und Nachtzeit das Ghetto verlassen. Der Historiker Romedio Schmitz-Esser spricht deshalb vom Ghetto als einem Ort der „relativen Toleranz“. (Quelle: Deutschlandfunk)
Friedhofsinsel (San Michele)
Eines Morgens mache ich mich auf, den Friedhof von Venedig zu besuchen. Mein Weg führt mich kreuz und quer durch die Stadt bis ich den Ableger für das richtige Wassertaxi finde. Am frühen Nachmittag stehe ich endlich an den ersten Gräbern, aber schon eine Stunde später ertönt eine Stimme aus den Lautsprechern, dass der Friedhof in Kürze schließt. Ich nutze die Stunde dazu, durchzuschnaufen, ein fast menschenleerer Ort, dieser Friedhof auf seiner eigenen Insel.
Der Friedhof von Venedig muss immens mit Platzmangel kämpfen. Deswegen werden die Menschen nach ihrem Tod erst normal begraben, um ein paar Jahre später wieder exhumiert und zu hohen Blöcken gestapelt zu werden. Ein wenig skurril sind auch die vielen Hinweisschilder auf die hungrigen, tieffliegenden Möwen auf dem Friedhof. Ehrlich gesagt, höre ich die Möwen zwar, zu sehen bekomme ich aber nur ein paar wenige. Das Fotografieren ist auf dem Friedhof übrigens strengstens untersagt. Ich mache es dennoch, natürlich.
Ich verbringe meine Tage meist ohne konkrete Pläne. Ich schlendere durch die Gassen und lasse mich treiben, ich besuche den Markt, bin immer auf der Suche nach gutem Eis, beobachte Menschen, trinke Kaffee. Eines abends fahre ich mit dem Zug nach Padua, ich übernachte bei meinem Bekannten Luca, um mir am nächsten Tag die Stadt anzuschauen. Aber es regnet und regnet, so dass ich nur eine Ahnung von einer, glaube ich, sehenswerten Stadt bekomme. Ich fahre zurück nach Venedig in den kalten Sonnenschein.
Ich bin froh, in Venedig gewesen zu sein, vor allem aus kulturell-geschichtlichen Gründen, aber auch weil ich Funda und Sergei traf. Es ist nicht unbedingt ein Ort um zurückzukehren. Ich liebe Italien und mag mich lieber dem Süden zuwenden, demnächst. Aber der Karneval hat mich begeistert, in so vielen Momenten schmunzeln lassen, überrascht und natürlich auch aus meiner Komfortzone getrieben. Alles richtig gemacht, wie fast immer.
Andreas Habash
Schöner Bericht – Danke
Es scheint in den Gassen sehr eng zu sein.
Welche Brennweite haben Sie hauptsächlich eingesetzt?
Ein Zoom wäre doch praktisch?!
Danke für Infos
Grüße
AH
Antje Kröger Photographie
28mm
ich fotografiere ausschliesslich mit festbrennweite. ;)
Thomas Roessler
Venedig ist wunderschön – aber der Karneval in Saarbrücken-Burbach viel besser zu fotografieren :-)