Antje Kröger | Fotokünstlerin

Oblast Kaliningrad / Russische Föderation (2004)

Posted by on Mrz 08 2022, in Mensch, Welt

Oblast Kaliningrad / Russische Föderation

Warum habe ich diese alten Schätzchen ausgegraben? (Habe übrigens nur mein digitales Werk von dieser Reise gefunden, erst einmal. Die Negativstreifen werde ich im Archiv suchen, dazu muss ich länger abtauchen.) Warum das Zeigen dieser Fotos in diesem Augenblick des Weltgeschehens? Schließlich liegt die Reise fast 18 Jahre zurück. Aber ich erinnerte mich dieser Tage an ein Foto, welches ich im russischen Kaliningrad aufnahm, mitten in einem menschenleeren Park, es war Anfang des Herbstes, das Laub bedeckte schon den Boden. In weißer Schrift stand auf einer Mauer in kyrillischen Buchstaben: Pazifist. Auf den ersten Blick ein so leises, unscheinbares Foto, auf den zweiten Blick so stark und richtig und wichtig in diesen Zeiten und schon immer. Als ich im Oblast Kaliningrad unterwegs war, zählte das neue Jahrtausend gerade zwei Jahre. Ich war Ende zwanzig und hatte mir in den Kopf gesetzt, die ehemalige Heimat zweier meiner Großeltern zu besuchen. Königsberg (ein kleiner Ort in der Nähe) die Heimat meines Großvaters mütterlicherseits, sein Vater war dort Richter und Jockey und die Heimat meiner Großmutter väterlicherseits, die nach dem Krieg mit ihren Eltern und drei Schwestern flüchtete und in Sachsen strandete. Meinen Großvater verschlug es nach dem Krieg und Stalingrad nach Mecklenburg, wo er meiner brandenburgischen Großmutter begegnete. Vier Monate bevor ich geboren wurde, starb er an einem Hirntumor. Nie konnte ich ihn befragen nach seinen Kriegs-Erlebnissen und/oder seiner Schuld. Meine Vater-Großmutter begegnete irgendwann nach der Flucht aus Ostpreußen ihrem späteren Ehemann, einem Matrosen aus Kiel. Die genauen Umstände kenne ich nicht, denn ich war noch zu klein, als ich diesen Geschichten lauschen durfte. Und ich selbst – geboren in Mecklenburg, lebe schon viele, viele Jahre im Sachsenlande. Dazu bin ich, erlauben es Zeit und Geldbeutel, in der Welt unterwegs, besonders gerne, einerseits in Italien und anderseits in Osteuropa, beispielsweise in der Ukraine. Mich interessiert die Historie meiner Familie sehr, ich finde aber auch großen Gefallen an allen anderen Lebensgeschichten, die die Welt mir erzählen mag. Ich betrachte interessiert andere Lebenswege, das Verschieben von Puzzleteilen, politisches Interessengehabe. Noch nie war ich patriotisch, nationalistisch. Sobald ich in der Welt unterwegs war, erzählte ich, ich sei Europäerin oder ich käme aus Berlin, das ist immerhin die Hauptstadt des Landes, in dem ich die meiste Zeit verbringe. Und in der Schule lernt jede und jeder hoffentlich die Hauptstädte dieser Welt.

Dieser Krieg, den Putin vom Zaun gebrochen hat, geht mir derzeit in Mark und Bein. Betäubte viele Tage mein Herz und machte mir eine Heidenangst. Mittlerweile ist die Angst gewichen. Nun ist es an der Zeit, künstlerisch aufzubegehren. Nur so schnell kann ich nicht. Schreibe gerade noch an meiner Ukrainereise vom Sommer 2021. Aber mir fiel dieses Foto wieder ein. Damals hatte ich von meiner Großmutter meine erste digitale Kamera geschenkt bekommen und in den Semesterferien diese Reise unternommen. Oblast Kaliningrad und danach noch ein paar Tage Danzig. Russland und Polen. Meine ersten Schritte zum Kennenlernen des „Wilden Ostens“. Als Kind war ich häufig in der damaligen Tschechoslowakei oder in Ungarn im Urlaub. Aber da war der Schoss der Familie. Und Urlaube sind ja immer nur ein Türspalt zum Kennenlernen einer anderen Kultur. Einmal, als Jugendliche, während solch eines Urlaubes, traf ich auf einem Zeltplatz einen ungarischen Jungen. Wir hielten Händchen, obwohl wir kein Wort unserer gesprochenen Worte verstanden. Worte, ich verstehe viele gerade auch nicht mehr. Und die meisten Taten sowieso nicht. Ich mag keine pauschalen Urteile über Menschen, Länder, Kulturen. Eine Medienfrau sagte neulich so einen schönen Satz: „Vielleicht sind wir zu wenig gereist, um den Osten ein wenig mehr zu verstehen, zu fühlen, zu riechen und zu schmecken?!“ Für mich ist das Reisen ein fester Bestandteil des Lebens geworden. Urlaub vermisse ich schon seit meiner Jugend nicht!


Oblast Kaliningrad / Russische Föderation
Oblast Kaliningrad / Russische Föderation
Oblast Kaliningrad / Russische Föderation
Oblast Kaliningrad / Russische Föderation

Leider kann ich meine Reiseaufzeichnungen nicht mehr finden. Ein Block, vollgekritzelt mit Buchstaben aus Blei mit russischen Stiften. (Wahrscheinlich ruht dieser in einem Karton weit hinten in meiner Dunkelkammer.) Ich erinnere mich genau, wie ich Abend um Abend an meinem einfachen Holztisch sass, die Ereignisse des Tages Revue passieren ließ und aufschrieb. Manchmal tauschte ich außerdem mit einem Freund SMS in russischer Sprache aus. 160 Zeichen. Ich hätte diese SMS gerne noch einmal gelesen. Heute.

Seit ein paar Tagen denke ich über diese Reise nach, krame in meinem Gedächtnis. So langsam kommen die Erinnerungen wieder. Damals brach ich in den Abendstunden mit dem Nachtzug vom Berliner Ostbahnhof auf. Es war September. Meine Mitfahrerinnen allesamt russische Frauen, die die Strecke schon kannten. Die Wagen des Zuges waren mit ihren Zielen gekennzeichnet. Nach Kaliningrad „fuhren“ die Menschen in nur einem Wagon. Für viele ging es weiter ins andere Russland. Kaliningrad ist eine russische Exklave, die sich zwischen Polen, Litauen und der Ostsee eingeklemmt. Das vormalige Ostpreußen. Moskau hat dort die Ostsee-Flotte sowie Landstreitkräfte und eine mit Kampfjets, Bombern und Helikoptern ausgestattete Luftwaffe stationiert. Militärisch gesehen eine heikle Landenge zwischen NATO-Staaten und mittlerweile auch mit nuklearwaffenfähigen Raketen bestückt.

Der Zug fuhr durch die Nacht und ganz Polen, irgendwann wurde die Spurbreite anders, wir blieben lange stehen… Als ich am nächsten Morgen gerädert aufwachte, strahlte die Sonne mit aller Kraft, ich bekam ein Teeglas von der Schaffnerin in die Hände gedrückt und schaute stundenlang aus dem Fenster auf die weite, füllige Landschaft. Erst Polens, dann Russlands. Des exklavischen Russlands. Als wir ankamen auf den einsamen Gleisen Kaliningrads klang Marschmusik aus den Lautsprechern. Ich weiß noch, dass mich das damals sehr belustigte. Mittlerweile habe ich mich auf diversen Bahnhöfen Osteuropas mit Marschmusik begrüßen lassen!

Ein Zimmer hatte ich noch nicht gebucht. Ich wusste, dass es Aushänge mit freien Zimmerangeboten im Bahnhofsgebäude geben würde. Gab es. Doch bevor ich mich mit ihnen beschäftigen konnte, begegnete mir ein mittelalter Taxifahrer in einer beigen Jacke, der in den nächsten Tagen an meiner Seite blieb. Nicht den ganzen Tag, aber immer, wenn es „etwas zu erledigen“ gab. (Damals bezeichnete ich ihn als Engel.) An meinem Ankunftstag war es schwierig, eine billige Bleibe für eine bettelarme Studentin zu finden. That’s why mein Fahrer mich in ein Matrosenheim am Rande der Stadt brachte. (Ich erinnere mich, dass ich bei meinem ersten Spaziergang in der Peripherie eine wilde Hundeschar traf, vor der ich richtig Angst hatte.) Ich war das einzige Mädchen unter Matrosen. Abends schloss ich mein Zimmer ab. (War übrigens nicht mein erstes Mal in einer Seemanns-Unterkunft, zieht sich ein wenig durch mein Reiseleben!) Am nächsten Tag holte mich der Taxifahrer, dessen Namen ich vergessen habe, dort ab und brachte mich in einem Sport-Studentenheim unter. Dieses Mal mitten in der Stadt.

Ich unternahm zwei Ausflüge mit dem Zug. An die russische Ostsee und in den kleinen Ort, in dem mein Opa geboren wurde und aufgewachsen war. Ansonsten spazierte ich durch Kaliningrad und suchte Spuren. Welche, das wußte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht so genau. An einem Tag besuchte ich eine Ausstellung über den 2. Weltkrieg in einem Bunker. Ich war ganz alleine dort unter der Erde, das weiß ich noch. Und auf einmal wackelte für kurze Zeit alles. Ich dachte, dass dies zur multimedialen Präsentation der Ausstellung gehörte. Als ich am nächsten Tag in die Zeitung schaute, erfuhr ich, dass es ein Erdbeben gegeben hatte…

An einem Abend am Ende meines Aufenthaltes in Kaliningrad (bevor ich nach Danzig fuhr), telefonierte ich mit meiner Großmutter. Bis zu diesem Zeitpunkt wußte sie nicht, wo ich mich aufhielt. Sie bat mich damals, schnell wieder nach Hause zu kommen. Ich weiß nicht mehr den genauen Wortlaut, aber inhaltlich sagte sie: „Antje, bei den Russen ist es gefährlich!“ Ich sprach später mit ihr darüber und erfuhr viel über Flucht und tragische Schicksale. Ich versuchte zu argumentieren mit anderen Zeiten und anderen gesellschaftlichen Gefügen. Und nun. 2022. Wieder Krieg, wieder Flucht. Wieder eine schicksalsreiche Zeit. Wieder ein ganzes Volk in Geiselhaft. Und ein anderes wird verletzt, getötet und der Heimat beraubt. Es ist zum Heulen!


Oblast Kaliningrad / Russische Föderation
Oblast Kaliningrad / Russische Föderation (2004)
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