Frau vom Schnee
Posted by Antje Kröger Photographie on Sep 16 2017, in Mensch, Workshop
Ein kleiner Zwischenfall warf ein grelles Licht auf diese breiter werdenden Risse. In dem weiten verschneiten Park wurde hinter dem Schewtschenko-Standbild eine junge Partisanin zum Galgen geführt. Eine Vielzahl deutscher Schaulustiger versammelten sich. Landser der Wehrmacht und Orpos, aber auch Angehörige der Organisation Todt, „Goldfasanen“ aus dem Ostministerium, Piloten der Luftwaffe. Es handelte sich um ein ziemlich mageres junges Mädchen, mit einem Anflug von Hysterie im Gesicht, das dichte schwarze Haar war unregelmäßig geschnitten, wie mit einer Gartenschere. Ein Offizier fesselte ihr die Hände, stellte sie unter den Galgen und legte ihr die Schlinge um den Hals. Dann defilierten die anwesenden Soldaten und Offiziere an ihr vorbei und küssten sie, einer nach dem anderen, auf den Mund. Sie blieb stumm, die Augen weit geöffnet. Einige küssten sie zärtlich, fast keusch, wie Pennäler; andere nahmen ihren Kopf in beide Hände, um ihr gewaltsam die Lippen zu öffnen. Als ich an der Reihe war, sah sie mich an, mit einem klaren, leuchtenden Blick, vollkommen reingewaschen, sie verstand alles, wusste alles, und dieses reine Wissen setzte mich in Flammen. Knisternd verbrannte meine Kleidung, die Haut auf meinem Bauch platze, das Fett brutzelte, das Feuer fauchte in meinen Augenhöhlen, im Mund und reinigte das Innere meines Schädels. Die Hitze war so intensiv, das sie den Kopf wenden musste. Ich verkohlte, und die Reste von mir verwandelten sich in eine Salzsäule; rasch abgekühlt, lösten sich Stücke, hier eine Schulter, dort eine Hand, dann die Hälfte des Kopfes. Schließlich fiel ich gänzlich zu ihren Füßen zusammen, der Wind erfasste dieses Salzhäufchen und zerstreute es. Schon rückte der nächste Offizier nach, und als alle sie passiert hatten, wurde sie gehängt. Tagelang dachte ich über diese seltsame Szene nach; doch meine Gedanken stellten sich wie ein Spiegel vor mir auf und zeigten mir immer nur mein tatsächliches Abbild, seitenverkehrt, aber naturgetreu. Auch die Leiche dieses jungen Mädchens war für mich ein Spiegel. Der Strick war gerissen, oder man hatte ihn durchgeschnitten, jedenfalls lag sie im Schnee des Parks der Gewerkschaften, das Genick gebrochen, die Lippen geschwollen, eine entblößte Brust von den Hunden angefressen. Ihr struppiges Haar umstand ihr Gesicht wie das Haar der Meduse, und sie erschien mir unsagbar schön, im Tode zu Hause wie eine Madonnenstatue, Notre-Dame-des-Neigers, Unsere Liebe Frau vom Schnee.
Jonathan Littell, Die Wohlgesinnten
Christian Voyce
Very intense but wonderful work