Marter
Posted by Antje Kröger Photographie on Mrz 12 2017, in Mensch
Die Moral des freiwilligen Leidens.
– Welcher Genuss ist für Menschen
im Kriegszustande jener kleinen, stets gefährdeten Gemeinde, wo die
strengste Sittlichkeit
waltet, der höchste?Also für kraftvolle, rachsüchtige, feindselige,
tückische, argwöhnische, zum Furchtbarsten bereite, und durch
Entbehrung und Sittlichkeit
gehärtete Seelen?Der Genuss der Grausamkeit: so wie es auch zur
Tugend einer solchen Seele in diesen Zuständen gerechnet wird, in der
Grausamkeit erfinderisch
und unersättlich zu sein.
An dem Thun des Grausamen erquickt sich die
Gemeinde und wirft einmal die Düsterkeit der beständigen Angst und
Vorsicht von sich. Die
Grausamkeit gehört zur ältesten Festfreude der Menschheit. Folglich
denkt man sich auch die Götter erquickt und festlich gestimmt, wenn
man ihnen den Anblick der
Grausamkeit anbietet, – und so schleicht sich die Vorstellung in die
Welt, dass das freiwillige Leiden, die selbsterwählte Marter einen
guten Sinn und Werth habe.
Allmählich formt die Sitte in der Gemeinde eine Praxis gemäss dieser
Vorstellung: man wird bei allem ausschweifenden Wohlbefinden von nun
an misstrauischer und
bei allen schweren schmerzhaften Zuständen zuversichtlicher; man sagt
sich: es mögen wohl die Götter ungnädig wegen des Glücks und gnädig
wegen unseres
Leidens auf uns sehen, – nicht etwa mitleidig! Denn das Mitleiden
gilt als verächtlich und einer starken, furchtbaren Seele unwürdig; –
aber gnädig, weil sie dadurch
ergötzt und guter Dinge werden: denn der Grausame geniesst den
höchsten Kitzel des Machtgefühls.
So kommt in den Begriff des
„sittlichsten Menschen“ der
Gemeinde die Tugend des häufigen Leidens, der Entbehrung, der harten
Lebensweise, der grausamen Kasteiung, – nicht, um es wieder und
wieder zu sagen, als
Mittel der Zucht, der Selbstbeherrschung, des Verlangens nach
individuellem Glück, – sondern als eine Tugend, welche der Gemeinde
bei den bösen Göttern einen
guten Geruch macht und wie ein beständiges Versöhnungsopfer auf dem
Altare zu ihnen empordampft.
Alle jene geistigen Führer der Völker,
welche in dem trägen
fruchtbaren Schlamm ihrer Sitten Etwas zu bewegen vermochten, haben
ausser dem Wahnsinn auch die freiwillige Marter nöthig gehabt, um
Glauben zu finden – und
zumeist und zuerst, wie immer, den Glauben an sich selber! Je mehr
gerade ihr Geist auf neuen Bahnen gieng und folglich von
Gewissensbissen und Ängsten gequält
wurde, um so grausamer wütheten sie gegen das eigene Fleisch, das
eigene Gelüste und die eigene Gesundheit, – wie um der Gottheit einen
Ersatz an Lust zu bieten,
wenn sie vielleicht um der vernachlässigten und bekämpften Gebräuche
und der neuen Ziele willen erbittert sein sollte. Glaube man nicht zu
schnell, dass wir jetzt von
einer solchen Logik des Gefühls uns völlig befreit hätten!
Die
heldenhaftesten Seelen mögen sich darüber mit sich befragen. Jeder
kleinste Schritt auf dem Felde des
freien Denkens, des persönlich gestalteten Lebens ist von jeher mit
geistigen und körperlichen Martern erstritten worden: nicht nur das
Vorwärts-Schreiten, nein! vor
Allem das Schreiten, die Bewegung, die Veränderung hat ihre
unzähligen Märtyrer nöthig gehabt, durch die langen pfadsuchenden und
grundlegenden Jahrtausende
hindurch, an welche man freilich nicht denkt, wenn man, wie gewohnt,
von „Weltgeschichte“, von diesem lächerlich kleinen Ausschnitt des
menschlichen Daseins
redet; und selbst in dieser sogenannten Weltgeschichte, welche im
Grunde ein Lärm um die letzten Neuigkeiten ist, giebt es kein
eigentlich wichtigeres Thema, als die
uralte Tragödie von den Märtyrern, die den Sumpf bewegen wollten.
Nichts ist theurer erkauft, als das Wenige von menschlicher Vernunft
und vom Gefühle der
Freiheit, welches‘ jetzt unseren Stolz ausmacht.
Dieser Stolz aber
ist es, dessentwegen es uns jetzt fast unmöglich wird, mit jenen
ungeheuren Zeitstrecken der
„Sittlichkeit der Sitte“, zu empfinden, welche der „Weltgeschichte“
vorausliegen, als die wirkliche und entscheidende Hauptgeschichte,
welche den Charakter der
Menschheit festgestellt hat: wo das Leiden als Tugend, die
Grausamkeit als Tugend, die Verstellung als Tugend, die Rache als
Tugend, die Verleugnung der Vernunft
als Tugend, dagegen das Wohlbefinden als Gefahr, die Wissbegier als
Gefahr, der Friede als Gefahr, das Mitleiden als Gefahr, das
Bemitleidetwerden als Schimpf,
die Arbeit als Schimpf, der Wahnsinn als Göttlichkeit, die
Veränderung als das Unsittliche und Verderbenschwangere in Geltung
war!
– Ihr meint, es habe sich Alles
diess geändert, und die Menschheit müsse somit ihren Charakter
vertauscht haben? Oh, ihr Menschenkenner, lernt euch besser kennen!
Friedrich Nietzsche
MORGENRÖTHE