Antje Kröger | Fotokünstlerin

Baltikum Okt*2024 – Litauen: Vilnius (I)

Posted by on Nov 17 2024, in Mensch, Welt

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Inhaltsverzeichnis


Prolog

Die drei baltischen Länder Litauen, Lettland und Estland in knapp zwei Wochen mit Bus und Bahn zu durchqueren – das war mein Plan, genau das ist auch passiert. Einen Ort auf dem Reisezettel, nämlich Klaipėda an der litauischen Ostsee, musste ich wegen mangelnder Zeit links liegen lassen. Zunächst war ich darüber traurig, denn an diesem Ort hätte sich ein Kreis schließen können. Vor zwanzig Jahren besuchte und liebte ich während einer Reise durch den Oblast Kaliningrad die „russische“ Ostsee, an die die „lettische“ Ostsee grenzt. Oh, während ich das hier schreibe, bemerke ich, wie absurd es ist, ein Meer nach den Nationalstaaten zu benennen, deren natürliche Grenze es ist. So what.

Damals war es mir nicht möglich, Russland in Richtung Litauen für einen kurzen Besuch zu verlassen, weil ich kein Visum besaß. Dafür erinnere ich mich noch genau an meinen Tag an der Ostsee dort, einem Stück Land, das viele Jahrzehnte für die Sowjetbürger nicht zugänglich war, weil es dem Militär vorbehalten war. Es gibt nur eine Handvoll Fotos von meinem russischen Besuch an der Ostsee, aber ich weiß noch genau, wie faszinierend ich das Leben der Menschen an ihrem Meer fand: Sie schwammen und schnatterten, sie sonnten sich, gingen spazieren, sie schälten Obst und Gemüse, sie spielten und diskutierten, sie aßen und sie lasen, sie stritten und sie liebten sich. Ein ganzes Leben am Meer – so wie ich es aus meiner Kindheit von den Wochenenden am See kannte. Nur geschlafen wurde im heimischen Bettchen.

Aber zurück zum Herbst 2024: Ich flog von Berlin nach Vilnius in Litauen. Von dort aus ging es mit dem Zug ins litauische Kaunas, anschließend mit dem Bus nach Riga in Lettland, weiter mit dem Bus ins estnische Tartu und abschließend wieder mit dem Zug in die Hauptstadt Estlands, nach Tallinn. Von Tallinn flog ich zurück nach Berlin. Zwei Gründe gab es für meine diesjährige Oktoberreise: Erstens – ich würde gerne irgendwann einmal alle ehemaligen sowjetischen Teilrepubliken besucht haben, und zweitens – ich halte es für möglich, dass es in naher Zukunft auch einen Angriff auf einen der Staaten des Baltikums durch Russland geben könnte.

Wie war meine Reise? Wie immer: Ich habe viel gesehen, er-ge-lebt und gelernt. Emotional war ich oft nicht so stark berührt. Noch immer hallte meine aufregende Reise durch Armenien im Februar dieses Jahres nach. Das Baltikum kommt sehr europäisch daher, alles ist in großem Maße verfügbar, das Leben funktioniert ziemlich reibungslos, die Grundstimmung ist mit dem Kapital und der Digitalisierung synchronisiert. Die Menschen waren zurückhaltend, wirkten manchmal gar unfreundlich auf mich.

Das Wetter war durchwachsen: mal sonnig, mal ziemlich trübe und wolkenverhangen. Die Dichte von Nobelkarossen like Porsche hat mich überrascht. Das Automobil scheint ein wichtiges Identifizierungs-Gut zu sein; alte Sowjet-Maschinen konnte ich auf den Straßen fast nicht ausmachen. Die Lebensmittel und Drogerieprodukte kosteten mich im Schnitt das Doppelte, in Estland manchmal das Dreifache wie bei uns. Überall auf den Märkten war der Herbst in Form von Pilzen, Äpfeln, Birnen und roten Beeren zu sehen und zu riechen. Oft boten alte Frauen ihr Hab und Gut und Frisches aus ihren Gärten und dem Wald feil.

Das Baltikum insgesamt wirkte mit einem ersten Blick – denn mehr kann so eine Reise ja nicht sein als ein erster Blick – auf mich kinderfreundlich und menschenfreundlich: Unmengen Spiel- und Sportplätze, unzählige Sitzmöglichkeiten im öffentlichen Raum, aber auch in Bahnhöfen und deren Umgebung. Spielzeug und Spielmöglichkeiten waren an Bahnhöfen und in Zügen zu finden. Und eines stach mir immer wieder, auch, ins fotografische Auge: die Solidarität mit der Ukraine. 

Wie immer war ich sowohl mit meiner digitalen Leica als auch mit diversen analogen Apparaten unterwegs. Diesmal hatte ich zudem viele Schwarzweiß-Filme dabei, die schon etliche Jahre auf dem Buckel hatten, sowie einen Diafilm. In den ersten Tagen wechselte ich die Filme im Bad des Hostels und hoffte immer, dass niemand das Licht anschalten würde (der Lichtschalter befand sich natürlich außen an der Tür). Der Grund: Mein Wechselsack war im Koffer, und mein Koffer war erst einmal nicht bei mir (die Geschichte folgt). Einen Film verlor ich an das Licht, als ich mutig versuchte, ihn in meinem Rucksack zurückzuspulen.

Warum, fragt sich der Leser oder die Leserin, ist das bei der analogen Fotografie so umständlich? Ist es nicht immer. Aber in meinem Fall besitze ich einfach viele mechanische Apparate, die die Filme nicht mehr zurückspulen können (zum Beispiel wegen abgebrochener Hebel). 

Vilnius, Kulturhauptstadt 2009 // Kaunas, Kulturhauptstadt 2022 // Riga, Kulturhauptstadt 2014 // Tartu, Kulturhauptstadt 2024 // Tallinn, Kulturhauptstadt 2011


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Litauen Okt*2024: Vilnius
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Der Start war diesmal wirklich holprig, und damit meine ich nicht den Flug. Der war ziemlich angenehm. Keine Probleme. Die gingen danach los. Oder besser: ein Problem. Geschichte von vorn: In der Nacht kam ich in Vilnius an. Der Flughafen ist ziemlich klein, deshalb stand ich schnell am Gepäckband. Am BER in Berlin hatte die innere Kritikerin in mir sich schon darüber aufgeregt, dass ich meinen Koffer selbst wiegen und labeln musste (beschlich mich da schon eine Vorahnung?), und nun passierte gar nichts an diesem Band. Nichts. Es standen auch erstaunlich wenig Leute drumherum. Nach fast einer Stunde nervösen Wartens passierte es dann doch noch. Das Band setzte sich in Bewegung, und so zwanzig Koffer, Köfferchen und andere Stücke fuhren ihre Runde. Mein Koffer nicht. Vorerst machte ich mir noch keine Sorgen. Die machte ich mir dann in dem Lost-and-Found-Office. So richtige Profis am Start. Und das mitten in der Nacht. Ich wusste da schon, meinen Koffer werde ich so schnell nicht wieder sehen! Gut, dass ich in Berlin noch etwas umgepackt hatte und wenigstens alle analogen Filme ins Handgepäck gesteckt hatte. Nur meine Polaroidkamera ließ ich im Koffer. Ab jetzt war ich nur mit leichtem Gepäck unterwegs. Im sprichwörtlichen Sinne. Zwei Schlüpper hatte ich im Rucksack. Ansonsten nur Fotozeug und Technik. Herrlich. Und die Jungs aus dem Office waren noch nicht mal imstande, mir ein Uber-Taxi zu rufen. Ging ich also los und hielt Ausschau nach einem Taxi. Alle Busse hatte ich natürlich schon verpasst. Ich weiß durch all meine Reisen, dass die Taxifahrer am Flughafen es faustdick hinter den Ohren haben und in jedem Menschen einen reichen Touristen, oder in meinem Fall, eine reiche Touristin, wittern. Verhandlungsgeschick also war nun angesagt. Klappte auch, und der mittelalte Herr, der mich ins Hostel fuhr, amüsierte mich sogar mit seinen kurzweiligen Geschichten. Die Nacht war dennoch fast schlaflos. Natürlich. Zwei Wochen in nur einem Outfit, ohne Waschtasche, Medikamente usw. Irgendwann schlief ich wahrscheinlich doch ein, schlummerte oder so etwas in der Art. Als ich aufwachte, grüßte mich freundlich mein indischer Mitbewohner. Ich erzählte ihm kurz meine Geschichte. Er lächelte immer noch, schenkte mir eine Zahnbürste und erzählte mir dann, dass er gerade aus Paris komme. Dort wurde ihm in der Metro sein gesamtes Gepäck gestohlen. Zwei Leidensgenossen in einem Zimmer. Herrlich. Wir lächelten beide. Als er einen Tag später abflog (mit Rucksack und Plastiktüte), hatte ich eine Einladung nach Delhi in meinem nur noch imaginären Reisekoffer.


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Litauen Okt*2024: Vilnius

Der erste Morgen in Vilnius war sonnig, der zweite wolkig und verhangen. Welch Unterschied fürs Gemüt, welch Unterschied für die Fotografie. Welch Unterschied für den Blick auf einen Ort. Ich mochte beide Tage, ich mochte die Ambivalenz. Der erste Tag der Sonne tat meinem Seelchen mit dem verlorenen Koffer gut. Ich rannte und rannte. Fast wie Lola. Immer der Sonne nach und dem, was mir vor die Linse wollte. Vilnius, Hauptstadt Litauens, knapp 600.000 Einwohner. Der erste Eindruck von der Stadt war nicht berauschend. Langweilig gar. Wenige Menschen waren unterwegs (es war Samstagmorgen). Auch, zu meiner Verwunderung, wenige Autos. Aber ich spoilere schon mal: Das änderte sich noch. Erst einmal überquerte ich den Domplatz mit der Kathedrale von Vilnius, trank einen Kaffee, beobachtete die Täublein und sah hinauf zum güldenen Kreuz, das in der Sonne leuchtete. Danach versuchte ich, Kleidung für mich zu finden. Schwieriges Unterfangen. In meiner Größe hatten die smarten Anziehläden der Innenstadt nichts zu bieten. Also wenigstens ein Oversize-T-Shirt mit Druck einer 90er-Band erstanden, damit ich etwas für die Nacht hatte; in einem Mehrbettzimmer schon nicht ganz so schlecht. Am folgenden Tag, bei einem Supermarktbesuch, erstand ich noch eine blaue (ich mag doch gar kein Blau) Jogginghose. Vielleicht die dritte Jogginghose meines Lebens. Ich weiß gar nicht so genau, seit wann ich keine mehr besitze. Ganz viele Jahre in jedem Fall. Nun war ich wieder Jogging-Hose-in-blau-Besitzerin. Ein wenig zu eng (ich glich einer russischen Gewichtheberin), aber immer noch bequem, für die Herberge ausreichend. Zurück zum Tag davor. Ich ließ mich treiben. Kam am ehemaligen KGB-Gebäude vorbei, flanierte Richtung Wasser. Durch Vilnius fließt die Neris. Sie ist ein Nebenarm der Memel. Vier Brücken führen über das Flüsschen. Die bekannteste ist die „Grüne Brücke“. Ihr steuerte ich entgegen, überquerte sie und wurde angezogen von einem riesigen folkloristischen Wandbild auf einer alten Häuserwand. Irgendwann ein paar Stunden vorher, hatte ich das Bild schon in ganz klein von ganz weit weg erblickt. Zu diesem Zeitpunkt zog es mich mächtig in seinen Bann. (War es die Sonne, die das Motiv so ausbelichtete, oder war es die Frau in ihrer Tracht, mit ihrem Blick? Ich weiß es nicht. Am nächsten Tag entdeckte ich noch ein ähnliches Motiv, das mit mir gar nichts machte!). Ich musste der Schönheit immer näher kommen. Dazu gehörte auch, Treppen nach oben zu steigen, einen kleinen Hügel hinauf. Vielleicht wollte die gemalte Frau auch nur sagen: „Komm hier hoch, der Blick über den Fluss und die Stadt ist von oben noch wunderschöner!“ Ich gehorchte ihr. Sie hatte recht. Und sie war selbst so schön. Noch ein wenig erkundete ich die Gegend um das alte Haus (ein Rabenvogel spielte mit zwei leeren Wodkaflaschen), dann lief ich zurück zur Brücke und nahm zum ersten Mal einen Bus. Easy. Kreditkarte an das Gerät halten, eine Stunde für 90 Cent fahren. Toll. Aber. Sowohl im Office des Flughafens als auch im Hostel musste ich papierene Formulare ausfüllen. Die Überall-Digitalisierung, für die „die Balten“ (Gibt es „die Balten“ überhaupt?) bekannt sind, ist bei weitem nicht überall vorhanden. Finde ich auch gut so. Ich mag nicht den ganzen Tag mit meinem Handy Dinge tun, ich mag analog sein dürfen, auch in meiner Bezahlweise, dabei besitze ich sogar eine Kreditkarte. Aber natürlich werden Menschen ohne diese Karte ausgeschlossen. Wir fordern mehr und mehr Digitalisierung, dennoch sollten wir auch unbedingt ihre Nachteile im Blick haben. Der Bus fuhr nun also auch mit mir bepackt Richtung Užupis – dem Künstlerviertel von Vilnius.


Sportpalast

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