Rote Beete und Medaillenspiegel
Posted by Antje Kröger Photographie on Okt. 27 2024, in Mensch, Welt
Diese Geschichte besteht aus drei Strängen: drei Strängen, die auch die Großmutter unterteilte, wenn sie der erstgeborenen Enkelin einen Bauernzopf aus den dünnen Haaren flocht und ihn um den kleinen Kinderkopf legte. Das Mädchen liebte diese intimen Momente mit ihrer Omama. Strang Nummer eins nimmt im August 1980 seinen Anfang. Zu diesem Zeitpunkt lernte die Enkelin Mischka kennen, das Maskottchen der Olympischen Sommerspiele in Moskau. Sie war noch ganz, ganz jung, und eigentlich ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass sie sich so genau an dieses große Sportereignis und den niedlichen Bären erinnern konnte, wie sie es behauptet. Wollen wir ihr aber mal glauben. Seit diesem August 1980 begleitet Mischka sie in ihrem Leben, ebenso wie die Matroschka, der Wolf und der Hase sowie andere sowjetische Artefakte. Auf ihren Reisen durch Osteuropa trifft sie diese regelmäßig wieder – in allen möglichen Daseinsformen: auf Plastiktüten und Buttons, als Lampen und auf Wasserbällen. Es gibt nichts, was es nicht gibt – fast immer „billiger“ Plastikkram zu horrenden Preisen. Der Rubel muss eben immer weiter rollen.
Der zweite Strang bildet sich im Oktober 2024 heraus. Sie war in Riga unterwegs. Es war ein trüber Tag, es war „ihr Judentag“, denn sie hatte schon den Wald von Bikernieki besucht, in dem von Sommer 1941 bis Herbst 1944 nach unterschiedlichen Quellen 35.000 bis 46.500 Menschen von der Sicherheitspolizei und lettischen Hilfskräften umgebracht wurden. Außerdem war sie an jenem Tag im ehemaligen Ghetto von Riga gewesen und in den Ruinen der großen Choral-Synagoge. Sie war vollgestopft mit Informationen und Gefühlen wie Schuld und Trauer. In diesem Zustand kam sie an einem Platz vorbei, der sie in seiner Lebensbejahung einlud, näherzutreten. Überall lagen frisch geerntete Äpfel herum, an jeder Ecke gab es etwas anderes zu sehen. Und da war dieses Shirt. Das Shirt mit den Medaillen und dem blauen Totenkopf. Es hing in einem Baum, war nass und dreckig. Sie war berührt, erntete es und verstaute es im Rucksack. Am Abend in der Herberge legte sie es zum Trocknen auf die dicken Heizungsstränge.
Strang drei ist ein kulinarischer Strang und zieht sich aus der Kindheit der Enkelin bis in die Gegenwart. Sie liebte schon immer die Blutrote Beete. Als Kindchen fischte sie die eingelegten Scheiben aus Schraubgläsern und steckte sie alsbald in ihr Mündchen. Als (junge) Frau versuchte sie sich im Kochen von Borschtsch, nachdem sie in der osteuropäischen Welt so viele verschiedene Versionen der ukrainischen Suppe probiert hatte. Das heiße Blut des Herbstes. Ihre allerliebste Lieblingssuppe auf der Welt.
Werbung
NÄCHSTER FOTOWORKSHOP
Comments
Trackbacks and Pingbacks
Baltikum Okt*2024 – Litauen: Kaunas › Antje Kröger | Fotokünstlerin
[…] Rote Beete und Medaillenspiegel […]
Baltikum Okt*2024 – Lettland: Riga › Antje Kröger | Fotokünstlerin
[…] Rote Beete und Medaillenspiegel […]
Baltikum Okt*2024 – Litauen: Vilnius › Antje Kröger | Fotokünstlerin
[…] Rote Beete und Medaillenspiegel […]