Baltikum Okt*2024 – Litauen: Kaunas
Posted by Antje Kröger Photographie on Nov 17 2024, in Allgemein
Inhaltsverzeichnis
- Baltikum Okt*2024 – Litauen: Vilnius (I)
- Baltikum Okt*2024 – Litauen: Vilnius (II)
- Baltikum Okt*2024 – Litauen: Kaunas
- Baltikum Okt*2024 – Lettland: Riga (I)
- Baltikum Okt*2024 – Lettland: Riga (II)
- Baltikum Okt*2024 – Estland: Tartu
- Baltikum Okt*2024 – Estland: Tallinn
- Baltikumien Inside
- Rote Beete und Medaillenspiegel
Good morning, Vilnius, ein drittes Mal, wieder Sonne, dennoch verließ ich dich in Richtung Kaunas. Doch erst sollte sich noch ein Kreis schließen, an den ich schon gar nicht mehr gedacht hatte. Im Sommer 2021 besuchte ich Lublin in Süd-Polen. Damals lernte ich zum ersten Mal etwas über den Polnisch-Litauischen Staat von 1569 bis 1795. Im Zentrum von Lublin entdeckte ich das Portal – eine Installation zwischen den einstigen Verbündeten Polen und Litauen. Diese Installation verband beide wieder, via Lublin und Vilnius. Das Portal – eine Echtzeit-Videoübertragung. Als ich damals vor diesem in Lublin stand, wurde mein Bild live nach Vilnius gesendet. Nun stand ich in Vilnius vor dem Portal, welches sich vor dem Hauptbahnhof befindet, und mein Bild wurde nach Lublin verschickt. Stand ich in meinem Leben inzwischen schon an beiden Enden des Portals. Stark. Lächelnd betrat ich den Bahnhof, um den Zug nach Kaunas zu nehmen. Mein Ticket erstand ich schneller, als die Polizei erlaubt. Ich ging in Richtung des Automaten, eine Dame kam angesprungen und übernahm die Arbeit des Tippens für mich; nur bezahlen durfte ich selbst.
Die Fahrt in die zweitgrößte litauische Stadt (Kaunas hat rund 315.000 Einwohner) dauerte knapp zwei Stunden und kostete acht Euro. In Kaunas angekommen, inspizierte ich als Erstes den Bahnhof. Ich liebe Bahnhöfe (diese Information ist vor allem für Neu-Leserinnen). Deshalb spazierte ich auch hier von einem Ende des Bahnhofs zum anderen, um zu gucken, ob keiner guckt. Anschließend schlenderte ich zum Busbahnhof, ein paar hundert Meter weiter, ich war ja nicht schwer bepackt. In seiner Nähe sprang mir ein kleiner Markt ins Auge, auf dem ältere Mademoiselles Produkte feilboten. Zwei Russinnen verkauften mir zwei Schlüpfer, eine andere Russin ein litauisches Kleid, in dem ich wie eine Matroschka aussehe. Aber ich war froh, nun ein paar Wechsel-Kleidungsstücke zu besitzen. Auch eine rote Leggings und ein Paar Socken erstand ich noch bei einer wirklich schon sehr hochbetagten Madame. Aber im Kopfrechnen war sie wirklich gut! Nach meiner kleinen Shoppingtour machte ich mich auf den Weg zu meiner Herberge. Zuerst bestieg ich den Bus. Ich wollte wieder meine Kreditkarte an das Gerät halten, um ein Ticket zu erstehen; so kannte ich das ja aus Vilnius. Das funktionierte hier in Kaunas jedoch nicht. Ich fragte eine Schülerin neben mir, und sie informierte mich darüber, dass ich ein extra Ticket brauche (wie das funktionierte, lernte ich erst am nächsten Tag). Stieg ich also an der nächsten Station wieder aus und ging zu Fuß weiter. Zum Glück! Sprangen mir doch ein paar gute Fotomotive vor das Auge: Zum einen ein alter Friedhof, der jetzt ein Park ist, und zum anderen das Kaunas Culture Center. Ein unsaniertes Gebäude, außen in typisch braungrauer Fassade und mit hübscher Pärchen-Skulptur, innen mit sowjetischen Bleiglasfenstern. Beides wunderschön. Ich war noch nicht ganz angekommen, dennoch war Kaunas schon in mein Herz gesprungen. So sollte es während meines gesamten Aufenthalts bleiben. Eine Herzensstadt.
Britanika
Von weitem sah ich ein noch viel größeres, unsaniertes Gebäude. Und da war er wieder, dieser Anziehungsmoment. Diesem Gebäude musste ich unbedingt näher kommen. Aber vorher setzte ich mich auf eine Bank, um mit dem Flughafen von Vilnius zu telefonieren. Frau wird sich ja wohl mal nach seinem Gepäck informieren dürfen. Aber niente. Nix. Keine Neuigkeiten. Konnte nun also in aller Ruhe das brutale Monster erkundet werden. Schon von weitem verwunderten mich die Buchstaben, die ganz oben auf dem Koloss prangten: NEBEPRISIKIŠKIAKOPŪSTELIAUJANTIESIEMS. Als ich näher kam, spielte eine Frau mit ihren zwei Windhunden auf der Wiese vor dem Bau. Ich fragte sie sofort Löcher in den Bauch. Das Betonmonster sollte mal ein Hotel werden, wurde noch von den Sowjets geplant, aber nie fertiggestellt. Britanika heißt es. Noch nicht fertiggestellt, aber schon einen Namen besitzen … und die Buchstaben? Das sind nicht nur Buchstaben. Das ist das längste litauische Wort und bedeutet: „Gruppe von Menschen, die früher in den Wald gingen, um Gras für Hasen zu holen, dies jetzt aber nicht mehr tun.“ Die Hundefrau erzählte mir noch viel Spannendes über ihr Land (sie hatte selbst einige Jahre in Dänemark gelebt, war aber zurück nach Litauen gekommen und hatte sich mit ihrem Mann eine Wohnung gekauft). Dann verabschiedete ich mich, um endlich meine Herberge zu finden. Müde war ich. Der Tag schon weit fortgeschritten. Es passierte nicht mehr viel: Bett gesichert, ein paar litauische Spezialitäten verköstigt (leckere Rote-Bete-Suppe, die mich so an den geliebten Borschtsch erinnerte), noch einen Kaffee getrunken, den Sonnenuntergang bewundert. Und dann Ende. Ein guter Tag war das.
Mein zweiter Tag in Kaunas begann neblig und freudig. Mein Koffer rollte zu mir zurück. Ein Flughafen-Boy hatte mich informiert, dass ein Kurier in der Frühe mit meinen Habseligkeiten angerauscht käme. Er kam. Ich nahm sie in Empfang, den Kurier und meinen Koffer. Dabei hatte ich mich schon an mein leichteres Leben gewöhnt. Um ein paar Dinge im Köfferchen jedoch war ich schon froh, sie wiederzuhaben. Der Nebel lichtete sich, kam aber viel später noch einmal in voller Wucht zurück. Und das ereignete sich so: Ich schlenderte über die Hauptpromenade von Kaunas, um zu meinem ersten Ziel des Tages zu gelangen. Ein großer Brunnen mit Wasserfontänen tauchte vor mir auf. Was dann geschah, war spooky. Aus Lautsprechern erklang „Thunderstruck“ von AC/DC, ganz schön laut auch – und aus dem Brunnen trat Rauch aus. Kurz war nichts mehr auf der Promenade erkennbar. Das Spektakel hielt ein paar Minuten an. Ich war baff. Immer mal wieder passieren Dinge, die einen verwirren. Dieser Brunnen am frühen Morgen tat dies. So könnte jeder Tag des Lebens beginnen, mit freundlicher Verwirrung. So freundlich verwirrt ging ich schnurstracks weiter, mein Ziel: die Yard Gallery. Doch zuerst kreuzte noch die Synagoge meinen Weg, sie leuchtete so schön in der Sonne. Bauarbeiter beschäftigten sich gerade mit ihr, saniert wird die Dame nämlich in den kommenden Monaten, deswegen, für mich kein Hereinkommen an diesem Tag, leider. Also marschierte ich weiter zur Hof-Galerie, die es in Kaunas schon seit mehr als einem Jahrzehnt gibt. Sie ist ein Projekt von freiwilligen Künstlerinnen, um sichtbar zu machen, welche Juden einst an diesem Ort lebten und was mit ihnen passierte, nachdem die Deutschen in Litauen einmarschiert waren. Dort, wo die Galerie ist, befand sich früher ein Teil des Ghettos von Kaunas. Das Spannende an dieser Freiluftgalerie: Sie ist kein „öffentlicher“ Ort. In den Häusern leben Menschen. Die Besucher dürfen aber kommen, um sich die Kunstwerke anzuschauen. Doch leise sollen sie sein! Ein inspirierendes Stück Welt voller Spiegel, viel zu entdecken, oft erst auf den zweiten oder gar dritten Blick. Nach diesem Rausch brauchte ich Kaffee. Reisen und Kaffee ist immer so eine Sache. In Armenien war es so einfach: an jeder Ecke ein Automat mit günstigem Kaffee. Hier in Litauen war der Kaffee aus dem Automaten genauso teuer wie im Café, und im Café gab es vor allem Hipster-Plörre, und die Automaten wollten manchmal einfach keinen Kaffee ausspucken, obwohl ich sie mit Münzen fütterte. Wie auch immer, in diesem Moment suchte ich mir ein Café. Ich wollte mir die Sonne noch ein wenig ins Gesicht scheinen lassen. Der Kaffee ging so. Dafür gab es eine gute Toilette. Auch ein wichtiger Punkt beim Reisen: das Vorhandensein von Austretungsstätten. Bisher kein Problem in Litauen.
Nach einer doch längeren Pause fuhr ich mit dem Bus zu einer der beiden Standseilbahnen der Stadt. Ein Blick von oben auf die Stadt könnte ja vielversprechend sein. Auch durch Kaunas geht ein Flüsschen. Nein, genau genommen zwei: Nemunas und Neris. Der Blick von oben war nicht sehr atemberaubend, aber für die kurze Fahrt mit der Seilbahn, die strickende Fahrerin und das, was sich da oben abspielte, lohnte dieser Ausflug dann doch. Auf der Aussichtsplattform standen erst nur zwei Asiaten, die mit ihrem Handy fotografierten. Auf einmal kamen aus allen Richtungen litauische Soldaten angerannt. Anscheinend waren die Asiaten „offizielle“ Gäste der Armee. Sie fotografierten sich nun als Gruppe. Und ich fotografierte sie, und dann wieder hinunter mit der Seilbahn, die Strickende hatte ihren Socken fast fertig.
Ich nahm wieder den Bus, diesmal nach Žaliakalnis, einem Stadtteil etwas außerhalb. In Kaunas übrigens funktioniert das mit dem Bus so, dass man dem Fahrer oder der Fahrerin einen Euro durch das Fenster reicht und zurück einen Zettel bekommt. Ein Zettel bedeutet: eine Stunde Busfahren. Als ich in Žaliakalnis ankam, war früher Abend, die Sonne stand schon ziemlich tief. Sie leuchtete auf verfallene Holzhäuser in schönen Farben, aber auch auf brachialen Beton, beides stand hier nebeneinander. Kaunas, die Stadt der architektonischen Baustile. Noch nie habe ich an einem Ort so viele hübsche Gebäude gesehen in ihrer Unterschiedlichkeit: Jugendstil, Vor-Sowjet, Nach-Sowjet, traditionelles Holz, Bauhaus. Alles vorhanden. Nicht immer herausgeputzt, aber nie schmuddelig. Die Stadt wirkt europäisch, wahrscheinlich sogar nordeuropäisch. Ich war sehr begeistert, aber nach zwei Tagen auch ein wenig gelangweilt von der Harmonie. Nichts und niemand trat aus der Reihe, alles verfolgte Abläufe, die ich zwar nicht kannte, aber spürte. Der Abgrund war hier irgendwie unsichtbar gemacht worden. Aber am zweiten Abend fehlte er mir schon irgendwie. Ein Ort ohne Abgrund ist kein vollständiger Ort.
Yard Gallery
Polaroid
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