Baltikum Okt*2024 – Estland: Tartu
Posted by Antje Kröger Photographie on Nov 17 2024, in Mensch, Welt
Inhaltsverzeichnis
- Baltikum Okt*2024 – Litauen: Vilnius (I)
- Baltikum Okt*2024 – Litauen: Vilnius (II)
- Baltikum Okt*2024 – Litauen: Kaunas
- Baltikum Okt*2024 – Lettland: Riga (I)
- Baltikum Okt*2024 – Lettland: Riga (II)
- Baltikum Okt*2024 – Estland: Tartu
- Baltikum Okt*2024 – Estland: Tallinn
- Baltikumien Inside
- Rote Beete und Medaillenspiegel
In Riga wäre ich gerne länger geblieben. Meine Gefühle, als ich morgens mit meinem Koffer zum Busbahnhof rollte, waren Traurigkeit und Abschiedsschmerz. Die Sonne schien so schön, ich amüsierte mich noch einmal zusammen mit den Menschen in und um die Markthallen, schaute den Möwen bei ihrem Treiben zu und spazierte Richtung Fluss. Mein Bus gen Estland fuhr erst am Mittag. Auch wenn der Abschied schwerfiel, war ich gespannt auf das letzte Land dieser Reise: Estland. Schon jetzt fand ich die Unterschiedlichkeit von Litauen und Lettland spannend. Litauen ähnelt tatsächlich Polen sehr. Kein Wunder, dass die beiden Länder einmal in der Geschichte ein Team bildeten. Riga dagegen – ich weiß nicht, ob dies für ganz Lettland gilt – wirkte auf mich noch ziemlich post-sowjetisch, weniger europäisch. Ich musste mich anstrengen, die lettische Sprache im öffentlichen Raum zu hören; viel häufiger sprachen die Menschen Russisch (statistisch gesehen leben in Lettland ungefähr 30 Prozent Russischsprachige). Das Gefühl in Riga glich eher meinen Reisegefühlen in der Ukraine, in Moldau, in Bulgarien oder Rumänien. Ich las darüber, dass sich die Letten bemühen, alles ehemals-Sowjetische zu verbannen und ihre Kultur durchzusetzen. Doch das Leben spielt vielleicht ein wenig anders. Noch will anderes bleiben – vor allem wahrscheinlich in den gigantischen Plattenbauten der Stadt.
Die Busfahrt von Riga in Lettland nach Tartu in Estland dauerte knapp vier Stunden. Mit jeder Stunde, die verging, wurden die Straßen leerer, die Wälder mehr, die Ortschaften kleiner, das Licht schöner. Im Bus waren nur ein paar Menschen. Fast die ganze Fahrt lang blickte ich aus dem Fenster, hörte Musik und dachte nach. In der ersten Stunde telefonierte der Typ hinter mir ununterbrochen. Immer mehr bemerke ich, wie mich der sorglose Umgang mit dem Smartphone und der damit verbundenen Kommunikation nervt. Deshalb versuche ich zunehmend, meine eigene Kommunikation nur im privaten Raum zu führen. Mit den Handys geht es mir beinahe schon wie mit den Autos: Durch die falsche Benutzung und ihre Überpräsenz im Raum wirken sie hässlich. Und die Menschen, die „falsch“ mit ihnen umgehen, gleich mit. Aber ich schweife ab. Es war ein sonniger Tag, und ich genoss auf dieser Fahrt das Zusammenspiel der Wolken mit dem Licht. Manchmal nieselte es kurz, einmal sah ich einen Regenbogen.
Am frühen Abend kamen ich in Tartu an. Ein lustiger Name für einen Ort, dachte ich mir. Die Wolken waren blutrot. Ich wechselte den Reisebus gegen den Stadtbus, der mich zu meinem Hostel brachte. Es lag etwas außerhalb des Zentrums, in der Nähe des Bahnhofs. Es war ein ökologisches Hostel und wirklich herrlich. Nur einen Nachteil gab es: Es lag im vierten Stock ohne Fahrstuhl, und ich hatte etwas Mühe, meinen Koffer hochzuhieven. Als ich endlich in meinem Zimmer ankam, war ich zufrieden. Es war bunt, lustig eingerichtet und voller Bücher.
Mein einziger ganzer Tag in Tartu, der ältesten Stadt des Baltikums, begann neblig. Es war ein Sonntag, ein sonniger Herbstmoment; größtenteils ohne Menschen (wie meine Fotos zeigen), denn die tummelten sich lieber in den Shoppingmalls und Supermärkten. Ich spazierte zum Bahnhof, einem wunderhübschen Provinzbahnhof aus Holz. An diesem Morgen versank er ästhetisch in dichtem Nebel, bis sich die Sonne schließlich durchkämpfen konnte.
Tartu – Kulturhauptstadt 2024. Der Sticker-Bus „SLÄP!“, der vor dem Bahnhof stand, überbrachte mir diese Information. 300 Künstler und Künstlerinnen hatten den Bus anlässlich dieses Ereignisses mit 25.000 Aufklebern geschmückt. Ich saß lange allein im Gefährt und versuchte, so viele Botschaften wie möglich zu entdecken. Doch das war bis zu meinem Ausstieg nicht zu schaffen. Aber das war eine schöne Sache, so ein Aufkleberbus – immer etwas zu schauen, zu lesen, zu denken.
Aus dem Bus stieg ich am Wissenschaftszentrum AHHAA. Ursprünglich eine Institution der Universität Tartu, ist es nun für alle zugänglich (mit einem riesigen Planetarium), vor allem ein spannender Ort für Kinder und junge Erwachsene. Mich zog die übergroße gelbe Quietscheente an, ebenso wie das architektonisch interessante runde Wohnhaus dahinter. Dieses hatte ich schon am Abend meiner Ankunft bewundert, da der Busbahnhof ganz in der Nähe liegt.
Jetzt schien die Sonne kräftig, und ich lief Richtung Zentrum. Dabei kam ich an einem Markt am Ufer des Flusses Emajõgi vorbei. Obwohl es Sonntag war, wurde verkauft und gekauft. Mit meinem mitgebrachten Essen setzte ich mich auf eine Bank und fütterte mich – und die Vögel um mich herum. Die hatten großen Spaß mit mir und riefen immer mehr Freunde und Freundinnen herbei. Doch irgendwann war das Futter alle, und ich setzte meinen Körper wieder in Gang, immer entlang des Flusses. Mir begegneten interessante Schilder und Skulpturen – und endlich auch ein paar Menschen. Sie hatten meist Kaffeebecher in der Hand, allerdings keine wiederverwendbaren wie bei uns. Kurz kehrte ich ins Zentrum ein, wo mir wieder das „Kulturhauptstadt“-Logo ins Auge fiel, machte mich dann aber schnell auf den Weg in die Suppenstadt – Supilinn.
Supilinn – ein historisches Stadtviertel von Tartu, einst ein Elendsviertel und eine Vorstadt mit originalen Holzhäusern. Die Straßen tragen Namen von Gemüsen, so gibt es die Bohnenstraße, die Kastanienstraße, die Selleriestraße und die Erbsenstraße. Sehr lustig.
Der Höhepunkt meines Aufenthalts in der Suppenstadt war ein sehr junges Pärchen, das in einem Fensterrahmen eines Holzhauses saß und etwas aus Suppenschüsseln löffelte. Als ich fragte, ob ich sie fotografieren dürfe, lächelte das Mädchen so zauberhaft, dass ich mich immer noch daran erinnern kann. Aber – und auch das ist wichtig zu erwähnen – dieser Stadtteil erlebt natürlich auch eine Art Gentrifizierung. Es gibt noch viele originale Häuser, aber auch schon eine Menge Neubauten. Nur der öffentliche Verkehr sollte angepasst werden: Der Bus fuhr am Sonntag nur einmal in der Stunde. Kein Wunder also, dass in diesem Teil von Tartu viele Autos unterwegs waren.
Der Tag neigte sich zumindest lichttechnisch bereits dem Ende zu. Zum estnischen Tartu konnte ich keine tiefere Beziehung aufbauen. Ein kleiner, feiner Ort – wohl eine typische Studentenstadt. Doch der Ort hat mich nicht überzeugt. Vielleicht bin ich einfach nicht unter seine Oberfläche gelangt.
Als ich mit dem Bus zurück in meine Herberge fuhr, hatte ich doch noch eine Begegnung, die mich berührte. Da ich während meines Tartu-Aufenthaltes keine Fahrkarten löste, weil sie mir einfach zu teuer erschienen, war ich natürlich immer auf der Hut. Eine Dame stellte sich während meiner letzten Fahrt neben mich und fragte, ob ich aus Helsinki käme. Sie war wunderschön, mit Hut und waldgrünem Mantel. Ich verneinte und verriet ihr, wo ich herkam. Sie nickte und fragte mich mit gutem Englisch, ob ich Studentin sei. Ich lächelte über das ganze Gesicht und klärte sie über mein Alter auf. Sie war erstaunt und sagte mir, dass sie selbst 85 Jahre alt sei. Das erstaunte wiederum mich. Sie stieg eine Station vor meiner aus. Ich winkte ihr noch einmal zu.
Bahnhof
Supilinn (Suppenstadt)
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