Baltikum Okt*2024 – Estland: Tallinn
Posted by Antje Kröger Photographie on Nov 17 2024, in Mensch, Welt
Inhaltsverzeichnis
- Baltikum Okt*2024 – Litauen: Vilnius (I)
- Baltikum Okt*2024 – Litauen: Vilnius (II)
- Baltikum Okt*2024 – Litauen: Kaunas
- Baltikum Okt*2024 – Lettland: Riga (I)
- Baltikum Okt*2024 – Lettland: Riga (II)
- Baltikum Okt*2024 – Estland: Tartu
- Baltikum Okt*2024 – Estland: Tallinn
- Baltikumien Inside
- Rote Beete und Medaillenspiegel
Am Morgen rollte ich mit meinem Koffer zum hübschen Tartu-Provinzbahnhof. Die Strecke kannte ich ja bereits. Mein Zug stand an Gleis 1 bereit zur Abfahrt. Knapp drei Stunden später fuhr er am Kopfbahnhof der estnischen Hauptstadt Tallinn (440.000 Einwohner) ein. Die Fahrt war kurzweilig. Zuerst machte ich Reisenotizen, später starrte ich aus dem Fenster. Ein paar Mal hielt der Zug, Menschen stiegen ein und aus. Die Ortschaften und Bahnhöfe waren meist klein. Auch der Bahnhof von Tallinn ist überschaubar. Die meisten Menschen kommen wohl eher mit dem Schiff oder der Fähre in die Stadt.
Ich mochte den Bahnhof. Nachdem ich ausgestiegen war, stromerte ich ein wenig um ihn herum. Auf einer Seite war eine Fotoausstellung an den Zäunen angebracht – über den 23. August 1989. An diesem Tag bildeten Menschen aus Estland, Lettland und Litauen eine 600 Kilometer lange Menschenkette zwischen den drei Hauptstädten Tallinn, Riga und Vilnius – genannt der „Baltische Weg“. Die Balten forderten ihre Unabhängigkeit, die sie im Sommer 1991 schließlich auch bekamen. Sie wurden von der gesamten Staatengemeinschaft anerkannt. Mehr als 30 Jahre später sind sie nun ein fester Bestandteil Europas. Drei sehr unterschiedliche Länder, mit jungen Demokratien, die – wie ich glaube – auf keinen Fall sicher sind vor einem russischen Angriff.
Nach den wirklich guten und informativen Fotos (ich konnte mich an diese Menschenkette leider gar nicht erinnern, war ich damals ja auch noch ein Kind) brachte ich mein Sack und Pack in die Herberge. Die Dame an der Rezeption war so unfreundlich, dass ich gar nicht anders konnte, als unfreundlich zurück zu sein. Das fällt mir manchmal erschreckend leicht, obwohl ich es nicht mag. Das Licht war mau, es war kalt. Dennoch wollte ich noch ein wenig Tallinn erleben. Obwohl – ich war schon einmal in der Stadt. Damals war ich auch mit dem Schiff gekommen. Doch erinnern konnte ich mich nicht mehr. Die Stadt wirkte auf mich fremd. Ich hatte keine Lust auf die typischen touristischen Routen in der Altstadt, deshalb nahm ich einen Bus, der mich zum Schloss Maarjamäe brachte. Dort befindet sich ein Skulpturengarten mit sozialistischen Artefakten. Cool. Einen ähnlichen Park hatte ich schon einmal in Budapest besucht – den Memento Park.
In Tallinn war ich komplett allein mit Lenin, Stalin und Co. Es war früher Abend, und im gesamten Schloss Maarjamäe war kaum etwas los, keine anderen Menschen. In der Ferne konnte ich ein paar Beton-Gedenkstätten und die Ostsee sehen. Nachdem ich genug Kommunismus intus hatte, machte ich mich auf den Weg dorthin. Zum ersten Mal sah ich die Ostsee auf dieser Reise. Ein starkes Lüftchen wehte, das Wetter war ungemütlich. So mag ich die Ostsee ja ganz gerne. Ich erinnerte mich an die Winterostsee meiner Kindheit mit Eisschollen und gefrorenem Sand.
Eine ganze Weile blieb ich, bis es fast ganz dunkel war. Auf einmal bekam ich große Gelüste nach ukrainischem Borschtsch und befragte mein Handy nach einem guten Restaurant. So kam ich dann doch kurz in die Altstadt – ins Restaurant Odessa. Schmackhaft war die Suppe meiner Sehnsucht jedoch nicht. Und satt wurde ich auch nicht. Typisch für touristische Lokalitäten – hätte ich auch ahnen können. Dafür schickte mir die Küche einen Gruß: leckeren Wodka.
Schloss Maarjamäe
Gedenkstätte Maarjamäe & Ostsee
In meiner Tallinn-Herberge schlief ich schlecht. Die ganze Nacht rollte der Verkehr vorbei, und außerdem schnarchte meine finnische Mitbewohnerin so laut, wie ich es von einem Mädchen noch nie gehört habe. Deshalb fühlte sich mein letzter Tag im Baltikum, in Estland, in Tallinn träge an. Mein Körper war müde, meine Augen wollten nicht mehr durch Sucher blicken, meine Gedanken waren voll. Ich beschloss, Richtung Meer zu laufen. Viel wollte ich nicht mehr von diesem Tag. Der Himmel war trübe, die Sonne schaffte es nicht durch die Wolken. Als ich am Tallinn-Ostsee-Strand ankam, sah ich zwei junge Burschen, die im Wasser standen und sich filmten. Ich fragte sie nach der Wassertemperatur: 10 Grad. Ich erinnerte mich an die mutigen Schwimmerinnen in Riga.
In diesem Moment kam eine Menschengruppe in Badekleidung an. Auch die Damen und Herren stürzten sich in die kalten Fluten. Alle hatten hochmoderne Uhren am Handgelenk, und meist fummelten sie daran herum. Ohne die geht es wohl heute nicht mehr? Plötzlich erschien G mit ihrem Hund. Sie war anders. Sie trug keine solche Uhr, dafür eine Kette mit Kreuz um ihren Hals. Sie zog sich aus – bis auf Handschuhe und Mütze – und turnte am Strand herum. Erst bemerkte sie mich nicht. Ich fotografierte ihr Treiben; es war wirklich schön anzusehen. Doch dann fiel ich ihr auf, und wir kamen ins Gespräch.
G ist Isländerin, ihren Namen konnte ich mir nicht merken. Wegen der Liebe war sie einst in Tallinn geblieben. Ihre Tochter studierte im norddeutschen Stralsund, das auch mir aus familiären Gründen nah ist. Ich erzählte G, dass ich seit dem Sommer jeden Tag kalt duschen würde, um im Winter auch in einem See baden zu können. Sie lächelte mich an und informierte mich darüber, was ich alles beachten müsse – beispielsweise, dass ich nur so viele Minuten im Wasser bleiben dürfe, wie die Wassertemperatur anzeigt. Spannend. Sie erzählte mir auch, wie sich ihr Körper und ihre Gesundheit durch das fast tägliche Baden in der Ostsee verändert haben. Mindestens dreimal in der Woche kommt G zusammen mit ihrem Hundetier ans Meer. Diese Frau faszinierte mich. Sie lächelte, sprach mit einer sanften Stimme und unterbrach unser Gespräch nur kurz, um sich in die Wellen zu stürzen. Ach, schön.
Ich nahm mir in diesem Moment vor, wenigstens das kalte Duschen weiterhin zu praktizieren. Als ich mich von G verabschiedete, machte sie mich noch auf die Linnahall aufmerksam. Bevor ich die Badenden entdeckt hatte, war ich schon ein Stück auf ihr entlang gegangen. Die Linnahall wurde zu den Olympischen Sommerspielen 1980 als W.-I.-Lenin-Palast für Kultur und Sport fertiggestellt. Die Spiele fanden in Moskau statt, die Segelwettbewerbe in Tallinn. Das Gebäude wurde seit 1980 als Mehrzweckhalle für Kultur- und Sportveranstaltungen genutzt. Neben dem großen Saal (5000 Sitzplätze) umfasste es eine Eissporthalle und verschiedene Cafés. Im großen Foyer des Konzertsaals fanden regelmäßig Ausstellungen statt. Und nun verfällt der Betonklotz. Hier schließt sich ein Kreis: War ich doch sofort an den Sportpalast in Vilnius erinnert, meinem ersten Ziel meiner Oktober-Baltikum-Reise.
Irgendwann hatte ich genug von der Kälte. Noch einmal fuhr ich zum Bahnhof, um den Antikmarkt von Tallinn zu besuchen. Dort gab es ein Wiedersehen mit dem Wolf und dem Hasen, Mischa dem Bären und Tscheburaschka – dem Wesen, das ich erst im Februar in Armenien so richtig kennengelernt hatte.
All die Dinge auf diesem Markt waren überteuert. Aber sie weckten Erinnerungen und waren schön anzuschauen. Nichts wollte ich wirklich mitnehmen. Ich brauche nichts. Sammle lieber Dinge auf der Straße auf oder schaue an Plätzen des Tausches vorbei. Ein paar Kleinigkeiten erstand ich schließlich doch für den Adventskalender eines Familienmitgliedes.
Zufrieden war ich mit diesem letzten Tag. Er war anders und voller, als ich gedacht hatte – ein würdiger Abschluss dieser Reise. Diese Reise, die so holprig begann, einige Sonnenstunden hatte, voller Schmerz und anderer starker Gefühle war. Die mir kleine Begegnungen schenkte, an die ich gerne zurückdenke.
Die letzte gute Begegnung hatte ich auf dem Rückflug von Tallinn nach Berlin. Wieder gab es Schwierigkeiten: Mein gebuchter Sitzplatz war nicht mehr verfügbar, da das Flugzeug ein anderes war. Ich buche immer Sitzplätze ganz hinten und am Gang. Nun musste ich nach vielem Hin und Her in der Mitte sitzen – zwischen einer dicken Person am Fenster und einer sehr dicken Person im Gang. Und ich mit meinem Körper dazwischen. Niemals hätte ich gedacht, dass dieser Flug so lustig, kurzweilig und gut werden würde. All das war er, weil die Dame am Fenster und ich ein so lustiges und interessantes Gespräch hatten, dass ich überrascht war, wie schnell wir in Berlin landeten. So viel sei noch gesagt: Selbst drei dicke Körper können in einer Billig-Airline für zwei Stunden ziemlich bequem nebeneinander sitzen. Hätte ich nie geglaubt, durfte es aber jetzt ausprobieren. Als mein Koffer dann in Berlin über das Gepäckband rollte und ich ihn in Empfang nahm, war das ein gutes Ende – für dieses Mal.
Linnahall
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