NOVEMBER 1933:1942:2021:2024
Posted by Antje Kröger Photographie on Nov 23 2024, in Mensch
Diese Geschichte spielt im Monat November. Das Jahr neigt sich dem Ende zu. Doch in welchem Jahr befinden wir uns? Ist es ein Novembertag, irgendwann im letzten Jahrhundert? Oder handelt es sich um mehrere Tage des elften Monats? Vielleicht gar um diesen November, wenn du, geneigter Leser, geneigte Leserin, dies hier gerade rezipierst?
Ich, die Erzählerin, kann nur so viel sagen: Alles hat mit allem zu tun. Alles ist miteinander verwoben. Jede Rolle ist mindestens doppelt besetzt. Es gibt Symbole, Rätsel, Zufälligkeiten. Es gibt eine sehr persönliche Ebene, die ich einst auf einer Reise aufschnappte, es gibt historische Begebenheiten, die so in unserer Welt stattgefunden haben, und es gibt Geschichten von Räumen, Körpern, Beziehungsgeflechten. Und schließlich gibt es, vielleicht als wichtigste Ebene, die Geschichte, die du siehst, fühlst, kreierst und zusammenreimst. Alles ist möglich. Es gibt kein „falsch“. Gehe rückwärts, schaue zurück, wenn es dir beliebt. Gehe vorwärts, wenn du magst, und blicke auch dorthin. Dafür zolle ich dir schon jetzt Respekt. Sei ängstlich, wenn es nicht anders geht, oder stelle dich der Angst, auch wenn sie dich durchschütteln will. Halte dem anderen Blick stand, wenn du kannst. Höre genau hin – die Zwischentöne spielen ihre eigene, wichtige Melodie.
2024:
Sie wachte auf, mit Tränen in den Augen. Als sie die Lider ganz geöffnet hatte, flossen sie heraus, tropften auf das Rot des Kissenbezugs. An die Nacht konnte sie sich nicht erinnern. Das Rot des Weins hatte sie wohl betäubt. Ihr rechtes Knie schmerzte. Jetzt begann sie sich zu erinnern, ihr Gehirn hatte die Arbeit aufgenommen. Vorgestern war ihr aufgeregter Körper die Steintreppen vor seinem Haus hinuntergestürzt. Die Schmerzen blieben anfangs aus. Später wurden ihre Beine wie Pudding; sie hatte Mühe, in ihr zu Hause zu kommen.
Vorgestern. November. Sie saß auf dieser Treppe, trank die letzten Tropfen Wein aus der Flasche, versuchte, sich eine Zigarette zu drehen. Es war viel zu kalt, alle Versuche scheiterten. Sie wartete auf ihn. Sie brauchte Antworten – auf diese Fragen.
Aber er kam nicht. Das Licht in seinen Fenstern blieb dunkel. Sie ahnte, dass er woanders schlief.
Am Morgen danach, humpelnd, der nächste Versuch. Sie traf ihn an. Sie redeten und schwiegen, abwechselnd. Die wichtigste Frage konnte sie nicht stellen, schob sie immer weiter hinaus. Erst nach der vorletzten Zigarette stellte sie sie endlich. Hab keine Angst, beruhigte sie sich selbst.
Die Antwort tat so weh, wie sie es geahnt hatte. Dabei kannte sie sie doch längst. Und doch: Die gesprochene Antwort traf sie wie ein Pfeil, mitten ins Herz. Aber auch mit diesem Pfeil hatte sie bereits Bekanntschaft gemacht. Er konnte sie nicht töten, nur schwächen.
Zeit zu verschwinden, dachte sie. Zeit, sich aufzulösen. Zeit, sich zur Verliererin zu küren.
Mütze. Schal. Jacke. Rucksack. Weg hier. Für immer.
Nicht umdrehen. Nicht umdrehen. Nicht umdrehen. Und atmen.
Dieses Jahr: so viel Angst, so viel Trauer, so viel Ankündigung von Veränderung. Ihr Körper war verwundbarer geworden, ihre Gedanken gemäßigter, ihr Habitus unwilder. Ihre Strahlen haben an Kraft verloren, der Schmerz hat die Ringe unter ihren Augen dunkel verfärbt. Lost in Sehnsucht, Sehnsucht nach Zuhause, ein Zuhause ruiniert, das andere bald verloren durch kapitalistische Hände.
1933:
Er dreht das Streichholz zwischen seinen Fingern hin und her. Der Geruch von Verbranntem hängt bereits in der Luft, kriecht aus allen Ecken. In der Ferne steigt dicker Rauch auf, formt eine Säule, die in den Nachthimmel wächst. Es ist relativ mild und windstill an diesem 9. November. Er hat die Mütze tief ins Gesicht gezogen.
Soll ich’s machen? Oder lass ich’s lieber sein?
Er überlegt noch immer. Minuten zuvor hat er Benzin aus einem Kanister in der kleinen Synagoge des Viertels ausgeschüttet. Eine Spur, die wie ein Weg aussieht – ein Weg, den er jetzt mit Flammen füllen könnte. Doch warum kommen ihm plötzlich Skrupel?
Das Pack muss weg. Sie müssen weg, weg, weg. Ausrotten. Ausmerzen. Die Worte dröhnen in seinem Kopf, wie Kanonenschlag, der nachhallt. Weg. Weg. Weg.
Seine Finger zittern, als er das Hölzchen anreißt. Der Funke springt über, die Flamme lodert. Er zögert, nur für einen winzigen Moment. Dann trägt ein leichter Windstoß die letzten Skrupel davon.
Das Hölzchen fliegt. Es landet auf der Benzinspur, entzündet sie. Die Flammen kriechen gierig voran, lecken über den Boden, erfassen die ersten Holzbänke. Das Feuer wächst, wütet, faucht.
Entfesselung.
Absolute Überschreitung aller „moralischen“ Grenzen und Barrieren. Kein Zögern mehr. Kein Zaudern. Keine Fragen. Kein Menschsein.
Nur noch Brennen. Klotzen, nicht kleckern.
1942:
Es ist bitterkalt. Minus 26 Grad. Am 19. November beginnt die Großoffensive. Am 22. November 1942 (minus 30 Grad) ist der Kessel geschlossen. Psychologischer Wendepunkt eines großen Krieges. Kalt, karminrot, kommunistisch. Der Krieg wird noch andauern, aber sein Ende läutet dieser November ein. Der Schmerz und die Toten nehmen noch einmal Fahrt auf. Auf dem Höhepunkt des Grauens sind sechs Millionen Seelen gewaltsam aus dieser Welt geschickt worden.
2021:
Der erste Pfeil trifft mich. Keine Vorwarnung. Keine Ahnung. Mitten ins Herz. Treffer, kein Vorbeischuss. Versenkt. Ich muss schlucken. Mit allem hatte ich gerechnet, nur damit nicht. Von diesem Tag an habe ich Angst. Angst, dass etwas passiert, das ich nicht habe kommen sehen. Ich vertraue nicht mehr. Ich traue mich nicht mehr. Es ist November. Fühle die Temperaturen nicht, merke nur, dass die lange Dunkelheit mich schafft. Die Angst kriecht in meinen Körper und nimmt Besitz von ihm. Nachrichten aus dem Hinterhalt, Lügen, verschwiegene Wahrheiten füttern das Kopfkino. Ab diesem November bin ich auf der Hut. Auf der Hut sein, ist anstrengend. Dennoch gebe ich mich weiterhin hin. Der Liebe. Dem Leben. Dem Leid.
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