Lost in Sehnsucht
Posted by Antje Kröger Photographie on Aug 01 2024, in Mensch
Sie sitzt in der prallen Mittagssonne des auslaufenden Julis – auf dem Balkon des Kulturpalastes. 2024. Die Sonnenbrille fest auf der Nase. Hinter ihr das in Pastellfarben gehaltene, für politische Agitation zuständig gewesene und nun nur noch hübsch aussehende, sozialistische Wandbild mit Friedenstaube, Kosmonauten im All, DDR-Vorzeigefamilie und Wissenschaftlerinnen. Unter ihr plätschern die Wasserspiele der ehemaligen Ästhetik. Der Sommer, die Erinnerung, die Sehnsucht. Plötzlich füllen sich ihre Augen mit Tränen. Diese Sehnsucht. Deshalb immer gut, Sonnenbrille zu tragen. Einfach für das Gefühl, zwar unter Menschen, aber dennoch für sich zu sein. Heulen, so viel und wann frau mag. Dann noch die alten, weißen Kopfhörer auf die Ohren, Playlist des Lebens „on“. Schon gilt das Interesse nur noch dem Ich und, wenn gewollt, der Vergangenheit, der Zukunft, der Sehnsucht. Oder einem Mischmasch aus allem.
Die Sonne treibt ihr den Schweiß zwischen die Brüste. In Gedanken stellt sie die Zeit auf allen Uhren um fünfunddreißig Jahre zurück. Viel weniger Automobile, mehr Kinder, andere Tramwagen. Das Wasser würde genauso empor spritzen, der Beton würde die Hitze speichern, die Menschen von A nach B gehen, spazieren, rennen, schlurfen, wandern. Ihr fehlt die Leere. Die Stille. Auch in der großen Stadt. Jetzt überall Kräne, Autos, Krach, Angebot, Buntheit, Produkte, Schnelllebigkeit, Ruhelosigkeit. Sie misst das Grau mit Farbeinheiten. Sie misst das Weniger. Sie misst das Karge. All diese Plätze kannte sie schon in ihrer Kindheit. Oft hatte die Familie die großen Städte der DDR besucht. Rostock, Berlin, Dresden. Immer gab es Ragout Fin und Zitronenspeise in irgendeiner Gaststätte zu essen. Sie liebte diese Besuche in der Großstadt – die Breite der Straßen, die Menschen in ihren verschiedenen Seinszuständen, die Straßenbahnen, die auf den Schienen umher krächzten, die Häuser, den enormen Platz, die Kinder, die so viel Abenteuer erlebten.
Ein Song auf ihren Ohren lässt sie noch sentimentaler werden, Tränen laufen über die geröteten Wangen. Sommer-Sehnsucht-Saison. Sie schmerzt und lässt schmunzeln, sie trägt auf, verhält sich leiden-schaftlich, erinnert an Tote und all die, die gegangen sind, ohne sich zu erklären, macht Räume auf, die längst als verschlossen galten, spült Ereignisse hoch, die sie längst „vergessen“ hatte …
Sommer. Als sie ein Kind war, gab es zwei Sommer-Ferienmonate. Juli und August. Juli plus August gleich Sehnsucht. Keine Schule. Auf den Autobahnen und Straßen der DDR und des osteuropäischen Bruder- oder Schwesterlandes unterwegs. Mit den verschiedensten Automobilen, ihren Schäden und Ausfällen, Schlafen in Zelten oder Bungalows, Kochen in Gemeinschaftsküchen, Gemeinschaftsduschen für alle Körperformen, Freiheit. Oder sozialistisches Ferienlager (nur doof, wenn das Halstuch es nicht in den Koffer geschafft hatte). Oder Sommer-Langeweile auf dem Dorf bei der sächsischen Großmutter, unterbrochen von Geschmackserlebnissen aus dem großen Garten oder einer Fahrt auf dem Trecker des Onkels, dessen speckiger Körper immer nur von Arbeitshose und Unterhemd bedeckt war. Keine Langeweile bei der mecklenburgischen Stadtoma, Zinnwannen voller Wasser, spritzende Gartenschläuche oder andere Badeerlebnisse, Stadtbummelei mit viel Eiskreme. Schokolade natürlich. Später wurden die Sommer herrlich, wenn die Familie sich verabschiedete in den „Urlaub“, sie alleine blieb. Mindestens vierzehn Tage wurde sie Herrin über ihr junges Leben. Schlafen, essen, träumen, aufräumen oder nicht, lesen, „sein“, zum ersten Mal in ihrem Leben so selbstbestimmt, wie sie ihr restliches Leben „sein“ wollte.
Sie erinnert sich an einen Sommer, sie war junge Studentin, da hatte sie ein Buch über diese zwei Sommermonate getragen. Der Aufziehvogel von Murakami. Gekauft hatte sie das Buch, weil ihr das Cover gefiel. Schon nach den ersten Seiten wurde sie in eine andere Welt katapultiert. Da wollte sie am liebsten nie wieder raus. Deshalb teilte sie sich die Seiten des Romanes penibel ein. So lange wie möglich wollte sie in dieser Welt bleiben, leben, „sein“. Oder der Sommer mit ihren Haus-Mitbewohnern. Sie verließen fast nie ihr Zuhause. Entweder sie kamen auf dem Dach (Schach) oder im Garten (Skat) zusammen oder in ihren Wohnungen, rauchten, tranken, hörten Musik und schwadronierten über die Welt im Großen. Ihre Welt war ganz klein, inmitten einer großen Stadt, und sie waren sich genug. Oder die Sommer der Lüste. Immer mehr Rausch als sonst, immer mehr Wollen als sonst, immer mehr Dramatik als sonst, immer mehr Abtauchen als sonst, immer mehr Suche als sonst, immer mehr Blick in den Abgrund als sonst, immer mehr Hunger als sonst.
Viele Menschen aus ihren Sehnsuchtserinnerungen auf dem 2024 Sommerbalkon leben nicht mehr. Die Toten fehlen ihr. Sie hat immer noch so viele Fragen über das Sein im Allgemeinen und über ihr Sein im Speziellen. Sie weiß immer noch nicht, wie das Leben richtig geht. Sie möchte so gerne zurück in einen sicheren Schoß aus Vertrautheit, aber sehnsüchtet im nächsten Moment nach dem Neuen, der Aufregung, dem Unbekannten. Sie vermisst Menschen, Festivals, Reisen, Partys, Liebe und erfreut sich dennoch am Allein-Sein. Sie kann zu viele Emotionen nicht vertragen, obwohl sie diese auch in großer Fülle gibt, wenn sie will, sie kann Nähe nicht einordnen, sie will in Trauer zerfließen, manchmal. Und sie vermisst ein sicheres „Haus“. Ein paar Jahre lang lebte sie in einem solchen. Einmal als sie sehr klein war und einmal als sie einen Menschen traf, bei dem sie sich sicher fühlte. Ihr eigenes Haus aus Sehnsucht wird gerade renoviert. Ihre Tränen stoppen, genug Sehnsucht für Jetzt. Der Juli endet. Was wird der August mit sich bringen, fragt sie sich und verlässt den Balkon. Schaut noch einmal den zwei Kosmonauten auf dem Wandbild in ihrer Schwerelosigkeit zu und macht sich auf einen neuen Weg.
Werbung
NÄCHSTER FOTOWORKSHOP