Antje Kröger | Fotokünstlerin

Der dünne Firnis der Zivilisation

Posted by on Sep 06 2015, in Mensch

Der dünne Firnis der Zivilisation

“ Eine Krise ist deshalb gut, weil sie unsere Ideale beschädigt. Es gibt viele Menschen, die ohne nennenswerte Schädigung durch ihr Leben kommen, weil ihr ganzes Leben die Beschädigung ist. Ich will damit sagen, dass Monotonie den Alltag der meisten bestimmt. Nach der Arbeit geht man nach Hause und legt eine Portion TV-Programm drauf. Man will einen größeren Fernseher und zweimal im Jahr in den Urlaub. Vielleicht wird man krank zwischendurch, und das geht dann so weiter, bis man stirbt. Eine Krise reißt einen aus allem heraus, und vielleicht verliert man alles. Vielleicht ist man richtig pleite, oder alle Leute halten einen für verrückt, aber es ist doch toll, weil es wenigstens ein bisschen was anderes ist. Man hat etwas erlebt. Es geht natürlich darum zu leben, um davon zu erzählen. Wenn man das nicht tut, ist es schade.“

Mirna Funk, Winternähe

Der dünne Firnis der Zivilisation

Der dünne Firnis der Zivilisation

Der dünne Firnis der Zivilisation

Der dünne Firnis der Zivilisation

Der dünne Firnis der Zivilisation

Der dünne Firnis der Zivilisation

Der dünne Firnis der Zivilisation

Der dünne Firnis der Zivilisation

»Ich mag die Splitter und die Risse. Alles muss heutzutage glatt sein. Meine Beine dürfen keine Haare haben, mein Telefon darf keine Kratzer haben, ein Mensch darf keine Ecken und Kanten haben, Gespräche müssen ohne Aufregung ablaufen. Bloß keine Angriffsfläche bieten, schön abrutschen. Aber keiner denkt daran, dass man eben auch ausrutscht. Das Raue bietet Halt, das Glatte ist haltlos. Deutschland ist glatt, weißt du das? Deutschland hat man abgehobelt, und danach ist man noch mal mit Schmirgelpapier rübergegangen, bis nichts mehr zu sehen war: vom Bösen. Wenn man das Böse vollständig weghobelt, erwischt man auch lebenswichtige Eigenschaften, die gar nicht böse sind. Das Eckige, das Kantige oder das Schräge zum Beispiel. Eben das andere. Siebzig Jahre haben sie versucht, den Krieg und das alles wegzuhobeln und Sicherheit zu schaffen. Und was kommt dabei heraus? Dass sich die Menschen in Berlin am allerliebsten über den neuesten Nike Sneaker unterhalten und die Menschen in Bottrop über den Sonntags-»Tatort«. Das ist alles, was sie haben. Das ist alles, was übrig geblieben ist. Sneaker und der »Tatort«. Es ist nicht auszuhalten. Es ist ekelhaft. Ich werde verrückt dabei. Und du? Wie geht’s dir? Ach, ich hab mir gerade diesen geilen Sneaker in der limited sowieso Edition geholt und gestern Abend den »Tatort« geschaut. Braindead nenne ich das. Ein Land voller Zombies. Bloß nicht aus der Reihe tanzen, bloß nicht mal was Verrücktes sagen. Bloß keine Fisimatenten. Immer schön in der Spur bleiben. Was uns jetzt noch fehlt, ist die Spur verlassen. Nie wieder die Spur verlassen! NIE WIEDER! Was ich an Israel immer geliebt habe, ist, dass sich hier niemand erlauben kann, braindead zu sein, weil man ununterbrochen einer existentiellen Gefahr ausgesetzt ist. Lieber Raketen als Zombies, Shlomo. Ehrlich. Lieber Raketen als Zombies. Hier ist noch Leben, hier hört man noch Herzschlag, hier gibt es noch Zerrissenheit und das Raue. Nichts ist glatt. Alles uneben. Hier kann man Halt finden und sich weh tun an den Unebenheiten. Wo keine Verletzung mehr geschieht, da hat man das Leben abgesaugt. Verletzung ist Leben. Es gibt da diese Stelle in Nietzsches Zarathustra, die Stelle ist richtig gut, warte, ich such sie schnell, ich hab sie in meinen Notizen auf dem iPhone. Das hat er 1886 geschrieben, dieser Hellseher.
Seht! Ich zeige euch den letzten Menschen. ›Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?‹ – so fragt der letzte Mensch und blinzelt.
Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten.
›Wir haben das Glück erfunden‹ – sagen die letzten Menschen und blinzeln.
Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbar und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme.
Krank-werden und Mißtrauen-haben gilt ihnen sündhaft: man geht achtsam einher. Ein Thor, der noch über Steine oder Menschen stolpert!
Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben.
Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt, daß die Unterhaltung nicht angreife.
Man wird nicht mehr arm und reich: beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich.
Kein Hirt und keine Heerde! Jeder will das gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig ins Irrenhaus.

Mirna Funk, Winternähe

Der dünne Firnis der Zivilisation

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Comments

  • Hallo Antje, sehr Starke und Tolle Bilder mit Seele !! Grüße Lena

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