Antje Kröger | Fotokünstlerin

Odem

Posted by on Sep 10 2015, in Mensch

Fotograf Leipzig Antje Kröger

“ Jetzt will ich leben. Ein paarmal noch kommt die Schwester herein und hebt meine Hand auf. Dann, gegen Morgen, kommen Pfleger und heben mein Bett auf Gummiräder und fahren es in den Krankensaal zurück. Plötzlich, denke ich, hat der Atem des Mannes vor mir aufgehört. Ich will nicht sterben, denke ich. Jetzt nicht. Der Mann hat plötzlich zu atmen aufgehört. Kaum hatte er zu atmen aufgehört, waren die graugekleideten Männer von der Prosektur hereingekommen und hatten ihn in den Zinkblechsarg gelegt. Die Schwester hat es nicht mehr erwarten können, daß er zu atmen aufgehört hat, dachte ich. Auch ich hätte zu atmen aufhören können. Wie ich jetzt weiß, war ich gegen fünf Uhr früh wieder zurückgebracht worden in den Krankensaal. Aber die Schwestern, möglicherweise auch die Ärzte, waren sich nicht sicher gewesen, sonst hätten mir die Schwestern nicht gegen sechs in der Früh von dem Krankenhauspfarrer die sogenannte Letzte Ölung geben lassen. Ich hatte das Zeremoniell kaum wahrgenommen. An vielen andern habe ich es später beobachten und studieren können. Ich wollte leben, alles andere bedeutete nichts. Leben, und zwar mein Leben leben, wie und solange ich es will. Das war kein Schwur, das hatte sich der, der schon aufgegeben gewesen war, in dem Augenblick, in welchem der andere vor ihm zu atmen aufgehört hatte, vorgenommen. Von zwei möglichen Wegen hatte ich mich in dieser Nacht in dem entscheidenden Augenblick für den des Lebens entschieden. Unsinnig, darüber nachzudenken, ob diese Entscheidung falsch oder richtig gewesen ist. Die Tatsache, daß die schwere, nasse Wäsche nicht auf mein Gesicht gefallen war und mich nicht erstickt hatte, war die Ursache dafür gewesen, daß ich nicht aufhören wollte zu atmen. Ich hatte nicht, wie der andere vor mir, aufhören wollen zu atmen, ich hatte weiteratmen und weiterleben wollen. Ich mußte die sicher auf meinen Tod eingestellte Schwester zwingen, mich aus dem Badezimmer heraus- und in den Krankensaal zurückführen zu lassen, und also mußte ich weiteratmen. Hätte ich nur einen Augenblick in diesem meinem Willen nachgelassen, ich hätte keine einzige Stunde länger gelebt. Es war an mir, ob ich weiteratmete oder nicht. Nicht die Leichenträger in ihren Prosekturkitteln waren in das Badezimmer hereingekommen, um mich abzuholen, sondern die weißen Pfleger, die mich in den Krankensaal zurückgebracht haben, wie ich es wollte. Ich bestimmte, welchen der beiden möglichen Wege ich zu gehen hatte. Der Weg in den Tod wäre leicht gewesen. Genauso hat der Lebensweg den Vorteil der Selbstbestimmung. Ich habe nicht alles verloren, mir ist alles geblieben. Daran denke ich, will ich weiter.“

Thomas Bernhard, Die Autobiographie

 

 

Fotograf Leipzig Antje Kröger

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Nicht jeder darf selbst bestimmen. Die Welt ist schwerer geworden. Mit der Last ist jede Entscheidung Kraftakt.

Comments

  • Sehr eindrückliches Er-leben, nachdenkliche Sätze und der spürbare Wille, dass dieses Leben weiter werden kann.
    Danke für all die guten Einträge hier … ich schaue über FB jedesmal hier vorbei.
    Hermann Josef

  • Konrad Diebler

    Beeindruckende Fotostrecke zu einem zutiefst menschlichen Thema, dem Atmen. Besonders gefällt mir das Bild mit dem direkten Blickkontakt. Nach meinem Verständnis spielen die Augen, der Blick in der Menschenfotografie eine besondere Rolle.
    LG Konrad

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