Armenien Feb*2024: Gjumri, Gyumri, ehemals Alexandropol & Leninakan (Գյումրի)
Posted by Antje Kröger Photographie on Okt. 03 2024, in Mensch, Welt

Die Erdbeben am 7. Dezember 1988 zerstörten im Norden des heutigen Armeniens eine ganze Region. Das Epizentrum lag nur 18 Kilometer nord-nordwestlich der 20.000 Einwohnerstadt Spitak, sie wurde beinahe gänzlich ausgelöscht. Leninakan, das heute Gyumri heißt, war die zu dieser Zeit zweitgrößte Stadt Armeniens. Mit ihren 225.000 Einwohnern lag sie 25 Kilometer südöstlich des Epizentrums. Hier hielten über zwei Drittel der Gebäude nicht stand. Die Beben kosteten mindestens 25.000 Menschen das Leben und hinterließen mehr als 31.000 Verletzte. Hauptgründe für die hohen Opferzahlen waren die fragile Bauart vieler Gebäude und die Kälte. Die einstürzenden Bauten begruben Tausende. Viele erfroren, bevor sie gerettet werden konnten. Mehr als 514.000 Menschen wurden innerhalb weniger Minuten obdachlos.
https://www.thwhs.de/2019/01/vor-30-jahre-erdbeben-in-armenien/

Es ist Sonntag. Der Mond steht noch hoch am Himmel. Dennoch muss ich schon heraus aus meinem gemütlichen Bettchen. Heute fahre ich mit dem Zug nach Gjumri. Ich erinnere mich noch ganz genau, als meine Vermieterin Armine zu mir sagte, nachdem ich schon ein paar Tage in Jerewan war, dass Armenien nicht nur Jerewan sei. Dabei hatte ich bei weitem noch nicht einmal die Hauptstadt ganz erkundet. Und doch nahm ich mir vor, über den Rand der Hauptstadt hinauszuschauen. Heute also eine Zugreise nach Gjumri, an einem Wintersonntag, der sonnig werden würde. Das mit der Eisenbahn in Armenien ist so eine Sache. Es gibt nicht viele Verbindungen. Der Direkt-Zug von Jerewan nach Gjumri verkehrt nur zwischen Freitag und Sonntag, einmal hin, einmal zurück. Das Hin-und-Zurück-Ticket kostet 11 Euro. Der Zug nennt sich Express. Er wird später mit mir durch das Land tuckern und zwei Stunden und 10 Minuten für 154 Kilometer brauchen. Gar nicht so langsam. Angefühlt hat sich die Fahrt jedoch wie eine unendliche Reise, vor allem die Rückfahrt.
Armine bestellt mir ein Taxi. Denn ich möchte sicher gehen, pünktlich am Bahnhof zu sein. Sie ist eine meiner ständigen Begleiterinnen. Die Angst, eine Fahrgelegenheit zu verpassen, egal ob Flug, Zug, Bus. Immer muss ich eine große Zeit vorher am Flughafen, Bahnhof oder ZOB sein, um mich wohl zu fühlen und nicht in Stress zu geraten. So auch an diesem Morgen. Außerdem will ich auch noch ein wenig fotografieren vor der Abfahrt. Deshalb kommt das Taxi für mich mehr als eine Stunde vor der Abfahrt des Zuges. (Zum Bahnhof wird der Fahrer circa 10 Minuten brauchen.) Als wir ankommen, dämmert es schon leicht. Vor dem imposanten Bahnhofsgebäude stehen zwei Taxifahrer. Einer von ihnen spricht mich ziemlich offensiv an. Sein Name: Hayk (der legendäre Patriarch, Urvater und Heros des armenischen Volkes). An diesem Morgen zeigt er mir, wo ich mein Ticket für den Zug kaufen kann, ein paar Tage später wird er mich auf meinen Wunsch hin mit seinem Rechtslenker-Toyota durch Jerewan chauffieren.
Mein Zug-Ticket halte ich in der Hand, bis zur Abfahrt ist noch gut eine halbe Stunde Zeit. Ich schlendere durch den fast leeren Bahnhof, gehe in Richtung der Schienen. Ein alter Zug fährt ein. Aus ihm steigen viele Menschen aus, die meisten sind Frauen und mindestens 60 Jahre alt. Sie haben große Tüten und Säcke dabei. Von rechts kommen Männer mit fahrbaren „Körben“ und laden Tüten und Säcke ein und auf und schieben diese zum rechten Ausgang des Bahnhofs. Ich folge ihnen. Was erblicken meine müden Augen an diesem Ausgang? Ein Gemüse- und Obstmarkt formt sich. Aus den Tüten und Säcken kommt Frisches und Grünes und Saftiges und Tierisches hervor. (Die Fotos dieses Spektakels hier.) Toll! Wo vor einer halben Stunde noch die Leere gähnte, tummeln sich jetzt Menschen über Menschen, sie verkaufen und kaufen, mancher Großeinkauf verschwindet im Kofferraum eines sowjetischen Oldtimers. Einen kleinen Augenblick noch erfreue ich mich an dieser ästhetischen Überraschung, dann eile ich zu meinem Zug.
Der Zug besteht aus zwei Waggons. Die Schaffnerin kontrolliert die Tickets, bevor es hineingeht, the same procedure like überall in Osteuropa. Madame Kontrolletti zeigt mir, wohin ich mich platzieren darf. Die Sitzbänke sind hölzern und ziemlich eng. Ich throne am Fenster. Glück gehabt! Wir fahren los. Meine Augen schauen ununterbrochen nach draußen, sie haben Angst, etwas zu verpassen. Sie entdecken unzählige Gewächshäuser, alte Ladas in einer Menge verschiedener Farben, Störche auf Masten, schneebedeckte Bergwipfel, Kargheit und noch so viel mehr … Mit meiner Leica filme ich eine kurze Sequenz. Aber wozu überhaupt? Nie wieder werde ich diese ansehen. Aber immerhin habe ich das Gefühl, ich könnte diese wunderschönen Zugmomente festhalten, für immer, für mich. Auch die anderen Menschen im Zug drücken ihre Nasen kurz an den Fensterscheiben platt, im Gegensatz zu mir aber legen sie ihr Handy niemals wieder aus den Händen. Oje. Diese Handysucht. Sie ist, natürlich, ein weltweites Phänomen. Aber in Armenien ist diese noch einen Zacken schärfer. Mensch und Handy sind eine Einheit und dürfen niemals getrennt werden. Crazy! Zusammengewachsen. Die Menschen starren auf ihre Bildschirme, als würden sie die Zukunft verraten können. Ich dagegen brauche mein Handy nur für kurze Notizen oder um meinen Musikplayer zu steuern, mobiles Internet habe ich nicht, brauche ich auch nicht. Ich genieße die Zeit, ohne mit der Welt verbunden zu sein.
Gleich werden wir an unserem Ziel sein: Gjumri, zweitgrößte Stadt Armeniens. Langsam wird es unruhig im Zug. Ich jedoch bewundere noch einen Friedhof, der sich an den Schienen entlang schlängelt. Dann taucht der Bahnhof auf. Meine Mitreisenden verlassen eilig den Zug. Ich mache immer noch langsam. Kälter als in Jerewan ist es hier. Die Sonne strahlt. Meine erste Bewunderung gilt dem sozialistisch anmutenden Bahnhofsbau. Im zweiten Stock befindet sich eine wunderschöne Wandmalerei aus sowjetischen Zeiten. Ich laufe hin und her und her und hin, um keine Ecke dieses hübschen Bauwerks zu verpassen. Das Licht spielt mit und ich mit ihm.








Liebe Stadt, ich komme und ich freue mich sehr auf dich! Ich verlasse den Bahnhof. Auf den Treppen des Bahnhofsgebäudes stehen sie wieder, die Taxifahrer. In mir sehen sie ihr nächstes „Opfer“. Aber ich mag ins Zentrum laufen, immer geradeaus. Der Weg ist das Ziel, heißt es doch so schön im Volksmunde. Noch in Jerewan hatte ich mir den Weg angeschaut. Also verneine ich alle Anfragen an mich und mein Geld und laufe los. Denn ich weiß von allen anderen Reisen, rund um den Bahnhof herum ist’s immer ziemlich aufregend und spannend. Es stürmt. Sand fliegt durch die Luft, Autos fahren an mir vorbei. Menschen hasten die Wege entlang, ein Aufräum-Trupp fegt die Straße, dem Trupp aus Menschen folgt ein Trupp aus Hunden. Ich bin an meine Hundebande in Tiraspol erinnert. Beide Trupps hier sind aber zu schnell für meine Fotoapparate. Aber Hunden begegne ich in Armenien grundsätzlich genug. Manchmal springen oder laufen sie mir auch in die Kamera.
Meine Füße tragen mich zunächst bis zum Ponchik-Monchik. Einem Café nahe dem Zentrum, in das ich einkehre. Dies ist eines der extravagantesten Cafés, das ich je besuchte. Wirklich wahr. Es besteht aus einzelnen „Gondeln“. Ich trinke Kaffee und esse Soljanka, beides ist ausgesprochen gut. Plötzlich dringt laute Musik in meine Ohren, richtig laute Musik. Ein paar Meter weiter befindet sich ein Kreisverkehr und an ihm ein Laden für Audio-Auto-Equipment. Stolze Jungs probieren ihre Boxen aus. Am Sonntag, um die Mittagszeit, mitten in der Stadt. Das fetzt. Die Musik wird noch lauter, noch basslastiger. Die Menschen stört’s nicht. Sie lächeln. Wahrscheinlich kennen sie das Spektakel schon. Ich verlasse zufrieden das Ponchik-Monchik. Später kehre ich direkt im Zentrum noch einmal in einer anderen Filiale ein, um Abendbrot zu essen. Auch dies wird wieder so richtig gut sein. Ponchik-Monchik bekommt von mir alle Sterne, die ein Café so bekommen kann, besonders auch den Stern meines ästhetischen Herzens und den Stern für einen wunderbaren Namen.













Ich laufe mit dem Strom der Menschen. Es ist Sonntag, die Menschen flanieren, schauen, kommen zusammen. Plötzlich stehe ich auf einem großen Platz. Hier ist so richtig was los. Laute Musik aus allerlei Autos, Menschen in feinem Zwirn, Menschen mit Taubenkäfigen. Sonntag ist Hochzeits-Feiertag. Zumindest hier. Ein junges, frisch vermähltes Paar wird von seinen Gästen aus der Kirche heraus begleitet hin zu dem großen Platz. Hier drückt jemand der Braut eine Taube in die Hand, sie soll sie aufsteigen lassen, aus Glücksgründen nehme ich an. Die Braut ist ein wenig ungelenk mit der Taube, wahrscheinlich hat die Dame noch nie ein Vögelchen aufsteigen lassen, die Taube hingegen ist Profi, sie fliegt sofort wieder zurück zu ihrem Käfig. Plötzlich hupt es ununterbrochen. Ein BMW mit Feierwütigen biegt um die Ecke. Auf der Motorhaube ist ein toter Fuchs festgeschnallt. Sowas haben meine Augen noch nie gesehen. Meine Kamera kann kaum genug bekommen von dieser Situation. So plötzlich wie alles begann, endet es wieder. Zwei Polizisten sorgen für Recht und Ordnung. Die jungen Wilden rebellieren noch einen Augenblick auf, Minuten später ist das Happening jedoch vorbei. Und der Akku meiner Leica leer. Der Ersatzakku auch. Oh. Eine kleine Panik steigt in mir auf. Ab nun nur noch analog. Genau drei Filme hab ich in meiner Tasche stecken. Trotz bester Vorbereitung passiert dies immer wieder mal. Ab jetzt also noch mehr Konzentration auf die wichtigen Motive.









Schon jetzt mag ich diese Stadt sehr, die Menschen sind freundlich, alles ist einen Ticken kleiner und geordneter und „schöner“ als in Jerewan. Aber nun verlasse ich erst einmal das Hochzeitsgewimmel und nehme eine der Straßen, die vom großen Platz (Vartanants-Platz) abgehen. Ganz zufällig habe ich gewählt. Die Straße führt bergauf. Plötzlich stehe ich vor dem: Central Park. Gibt es also nicht nur in New York, sondern auch hier im armenischen Gjumri. Ein weiterer Name für den Park: Maxim Gorky. Was für ein Platz. Was für ein Park. Selbst im Winter ein Augenschmaus. Oder vielleicht gerade im Winter. Weil alles schläft. Ich treffe zwei russische Mädchen wieder, mit ihnen hatte ich schon kurz im Zug gesprochen über den Krieg in der Ukraine. Beide sind vor kurzem erst nach Jerewan gezogen und machen gemeinsam einen Wochenendausflug. Eines der Mädchen hat in Frankfurt studiert, deswegen können wir uns auf Deutsch unterhalten. Immer wieder spannend, sich mit Fremden wirklich zu unterhalten. Ganz andere Sichtweisen auf Konflikte und den Zustand der Welt, als wir es von Medien tagtäglich aufgetischt bekommen. Deswegen liebe ich das Reisen so sehr. Nicht nur das Entdecken der Orte, der Kultur, sondern auch die Begegnungen mit Menschen und die kurze gemeinsame Zeit miteinander, jeder und jede nimmt aus diesen Zusammenkünften etwas für sein oder ihr Leben mit und blickt vielleicht auf das ein oder andere auf einmal ein wenig anders. Dennoch trenne ich mich von den Beiden, denn meine Zeit bis zur Abfahrt der Zuges zurück nach Jerewan ist begrenzt. Und der Park mag von mir noch entdeckt werden. Das Licht gibt gerade alles. Es leitet mich zu den schlafenden Karussells. Ich bin sofort an die DDR erinnert. Die Farben. Die drei kleinen Schweinchen. Ganz allein bin ich auf dem Rummel im Winterschlaf. Mein Herz pocht schneller, weil es solch eine einzigartige Situation ist. Die Sonne, der leichte Wind, die Einsamkeit. Eine Sehnsucht überkommt mich. Eine Sehnsucht nach meiner Kindheit, eine Sehnsucht in die Vergangenheit, eine Sehnsucht nach einem Menschen, den ich in meinem Leben sehr vermisse.



















Mein knurrender Magen treibt mich weiter. Ich passiere eine Hütte, noch in der Nähe der Karussells. Aus der Hütte höre ich Geräusche. Niemand ist in der Nähe, ich drücke die Klinke der Eingangstür. Die Pforte lässt sich leicht öffnen, sie knarzt. Welche Hexe mag wohl hier ihr Zuhause haben? Ich trete ein. Das gleißende Licht fällt durch die Fenster hinein. Da stehen Tische in einem großen Raum. Schachtische. Ganz hinten am Fenster sitzen drei Herren, konzentriert. Als sie mich erblicken, lächeln sie und bitten mich, näher zu kommen. Ich folge ihrer Aufforderung. Schaue ihrem Spiel zu. Osteuropa spielt, irgendwo immer, drinnen und draußen. Zwei Fotos mache ich, dann verabschiede ich mich höflich und wünsche noch einen schönen Sonntag. Hunger. Ich gehe weiter, Richtung Parkausgang. Irgendwann biege ich rechts ab. Ein Hochzeitspaar wird gerade aufwendig fotografiert, meine Neugierde ist on. Leider ist es nicht „mein“ Hochzeitspaar, ein wenig bin ich darüber enttäuscht. So what? Ich laufe weiter in Richtung einer Ruine, die mir schon vor zwei Stunden aufgefallen war. Diese Ruine ist ziemlich berühmt. Besser gesagt ihr Balkon. Das wusste ich vorher aber nicht. 1984 wurde in dem Gebäude und auf dem großen Balkon die in Armenien berühmte Tragikkomödie „The Tango of Our Childhood“ gedreht. „Varem Marem“, ruft die weibliche Hauptfigur mit rollendem „R“ vom Balkon herunter. Das bedeutet so viel wie (Licht) ein- und ausschalten im armenischen Dialekt. Gegenüber der Ruine befindet sich ein Kunst-Studio und eine Galerie. Natürlich lasse ich mir einen Besuch nicht entgehen und betrete die Räume. Eine junge Frau begrüßt mich auf Englisch und erzählt mir von dem Film und der Galerie und von Gjumri. Aufmerksam höre ich zu und verspreche ihr, dass ich ihr auf Instagram schreibe. Wenn meine Reportage in Bild und Wort fertig ist, werde ich ihr natürlich davon berichten. Aber für heute ist meine Energie aufgebraucht. Ich möchte zurück zum großen Platz ins Ponchik-Monchik, um etwas zu Abend zu essen. Bald wird mein Zug zurück nach Jerewan fahren. Schüss Gjumri. Es war sehr besonders, die Stunden meines Tages sind so schnell verflogen und meine Momente mit den schlafenden, bunten Karussells werde ich niemals vergessen!












Werbung
NÄCHSTER FOTOWORKSHOP
Comments
Trackbacks and Pingbacks
Armenien Feb*2024: Jerewan - Eriwan, Erewan, Yerevan, Erevan, Երևան (Teil III) › Antje Kröger | Fotokünstlerin
[…] ∗ Armenien Feb*2024: Gjumri […]
Armenien Feb*2024: Jerewan - Eriwan, Erewan, Yerevan, Erevan (Teil II) › Antje Kröger | Fotokünstlerin
[…] ∗ Armenien Feb*2024: Gjumri […]
Armenien Feb*2024: Rundreise – Sewansee, Sewankloster, Dilijan, Goschawank, Kloster Haghartsin › Antje Kröger | Fotokünstlerin
[…] ∗ Armenien Feb*2024: Gjumri […]
Armenien Feb*2024: Jerewan - Eriwan, Erewan, Yerevan, Erevan (Teil I) › Antje Kröger | Fotokünstlerin
[…] ∗ Armenien Feb*2024: Gjumri […]
Armenien Feb*2024: Jerewan - Eriwan, Erewan, Yerevan, Erevan, Երևան (Teil I / A) › Antje Kröger | Fotokünstlerin
[…] ∗ Armenien Feb*2024: Gjumri […]