Armenien Feb*2024: Jerewan – Eriwan, Erewan, Yerevan, Erevan, Երևան (Teil I)
Posted by Antje Kröger Photographie on Okt 03 2024, in Mensch, Welt
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Mein Room, meine Family, mein Block, meine Hood
(Իմ սենյակը, իմ ընտանիքը, իմ բլոկը, իմ գլխարկը)
Warum ausgerechnet Armenien? Eine Reise in eine ehemalige sowjetische Teilrepublik, an der Schwelle zu Asien? Es gibt dafür keine eindeutige Antwort. Ausschlag gab wahrscheinlich der erneute Konflikt, Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan, einer anderen ehemaligen Sowjetrepublik. Der Konflikt um Bergkarabach (russisch Nagorny Karabach). Schon als Kind klingelte dieser Name in meinen Ohren, wenn ich mit meiner Großmutter Nachrichten schaute, schon als Kind fragte ich mich, wo dieser ominöse Berg sich wohl in die Luft erstrecken würde. Damals wusste ich noch nicht, dass es sich gar nicht um einen Berg handelt, sondern um eine Region. Im September des letzten Jahres klang das Wörtchen „Bergkarabach“ wieder in unserer aller Ohren. Als zirka 140.000 Armenier, die dort (manchmal seit Generationen) lebten, ihr Zuhause verlassen mussten, wohl endgültig.
Die Republik Berg-Karabach, korrekt seit 2017 Republik Arzach, rief 1992, nach dem Fall der Sowjetunion, ihre Unabhängigkeit aus, mit eigener Verfassung, Regierung und der Hauptstadt Xankändi wurde von ethnischen Armeniern bewohnt, jedoch von keinem anderen Staat anerkannt. Auch nicht von Armenien. Am 1. Januar 2024 löste sich die Republik, die zum Territorium Aserbaidschans gehört(e), auf. Der Konflikt dauerte 100 Jahre an und wurde 2023 militärisch mithilfe der Türkei ‚aufgelöst‘. Die Bewohnerinnen von Berg-Karabach flohen mit Sack und Pack nach Armenien, suchten und fanden zumeist Unterschlupf und hoffentlich auch bald eine neue Utopie für ihr Leben. Armine, bei der ich während dieser Reise wohne, erklärt mir, dass es bei diesem Konflikt nicht wirklich um Religion gehe, wie ich vermutete. Zwischen Armenien (orientalisch-orthodoxes Christentum) und Aserbaidschan (schiitischer Islam) geht es um die Zukunftsausrichtung. Wer möchte, mit welchem globalen Partner, wohin gehen? Es geht um Macht, um das Zeigen militärischer Stärke und um demokratische Prozesse. Vielleicht sind Kultur, Glauben, Mythos und solche Dinge ein Hauch beteiligt am generellen Konflikt, das ist nicht auszuschließen, aber sie sind nicht der Motor für die Dinge, die da passieren zwischen den beiden so unterschiedlichen ehemaligen Sowjetrepubliken.
Die Republik Armenien, ein ziemlich kleines Land, nicht größer als Brandenburg, hat knapp drei Millionen Einwohner, und ist umzingelt von spannenden Nachbarn, im Norden Georgien, im Osten Aserbaidschan, im Süden der Iran und im Westen die Türkei. Dieser schöne Platz im Kaukasus mit seiner Hauptstadt Jerewan. Das älteste christliche Land der Erde, mit ganz eigener Konfession, Sprache und Schrift ist Armenien. Ich wollte neue Eindrücke in dieser Welt sammeln, eine andere Kultur kennenlernen, Konflikte verstehen, Menschen mit einer vielleicht anderen Sicht auf den gesellschaftlichen Wandel, der sich gerade vollzieht, treffen. Zwei Wochen lernen und staunen, neugierig sein, mit meinen Kameras. Zwei Wochen fotografische und menschliche Arbeit, zwei Wochen beobachten: die Menschen und das Licht. Deswegen legte ich kaum Pausen ein, immer befürchtete ich, meine Zeit im aufwühlenden Kaukasus würde nicht ausreichen. Tat sie auch nicht. Jetzt, wo ich knapp vier Monate wieder in meinem Leipziger Zuhause und mit meinem fotografischen Schatz ziemlich eng verbunden bin, über Armenien sehe, lese und höre, weiß ich, was ich alles „verpasst“ habe: wo ich nicht genug hingeschaut habe, wann ich hätte, einmal mehr abbiegen können. Dies ist meine Fotoreportage aus Jerewan und ein bisschen mehr Armenien, wie ich es im Februar 2024 gespürt und gesehen habe.
Meine erste Stunde in Jerewan (Eriwan, Erewan), Armenien: Das Flugzeug kommt pünktlich, 0.05 Uhr Ortszeit zum Stehen. Am Vortag hatte ich mich um sechs Uhr morgens in Leipzig auf den Weg gemacht. Sogar die Deutsche Bahn spielte mit und brachte mich in time nach Dortmund zum Flughafen. Im Zug und im Flugzeug hörte ich Musik und Podcasts; der letzte Workshop hatte mich ziemlich erschöpft. Das Flugzeug landet nach einem ruhigen, fünfstündigen Flug – viele Babys an Bord. Nach der Landung stürmen alle heraus, als gäbe es kein Morgen. In der Passkontrollenschlange starren sie auf ihre Handys oder telefonieren. Das Gepäckband läuft bereits; ich sehe meinen orangen Koffer, rolle zum Ausgang. Vorher tausche ich Geld um. Ich muss gleich noch herausfinden, wie die Währung heißt. Ich gebe dem freundlichen Herren am Schalter 70 Euro hin und bekomme 25.000 unbekanntes Geld zurück (die Währung heisst Armenischer Dram). Dann tippe ich meiner zukünftigen Vermieterin eine Nachricht per WhatsApp, weil sie mich aufgefordert hat, dies zu tun, um Taxigeld zu sparen. Sie antwortet nicht. Nach 10 Minuten rufe ich an, wecke sie. Sie schicke mir ein Auto, einen Nissan, zum Flughafen. Ich solle am Ausgang 1 warten. Wie sieht denn ein Nissan aus? Ich schaue mir alle Autos an, frage, aber nichts. Eine Frau sagt: "Sind Sie Deutsche? Seien Sie vorsichtig! Sonst werden Sie umgefahren." Kein Nissan. Meine Vermieterin ruft wieder an, erzählt mir, dass der Fahrer nicht losgefahren sei. In zwei Minuten käme wieder ein Nissan. Diesmal finde ich ihn. Der Fahrer ist jung, trägt T-Shirt. Es sind null Grad. Als ich im Auto sitze, weiß ich warum: Sauna. Er schweigt mich an. Ich weiß genau warum: Er kann kein Englisch, Deutsch natürlich auch nicht. Vorher übrigens mindestens 10 Männer, die mich ansprachen: "Taxi, Taxi." Aber ich hatte vorgesorgt, keine Abzocke am Flughafen diesmal. Der heiße Nissan fährt mich und mein Gepäck durch Jerewan. Alles ist hell. Es ist nun schon fast ein Uhr morgens. Überall Leute auf der Straße, Imbisse offen, 24-Stunden-Supermarkt. Eine Frau mit Warnweste fegt mit einem riesigen Besen die Straße. Die Ampeln sind doppelt so groß wie in Deutschland. Ich glaube, niemand schnallt sich hier im Auto an. Irgendwann biegt der Fahrer in dunkle Gassen ab. Immer dunkler wird es. Auf dem Weg sehe ich mindestens fünf alte Ladas. Wir fahren in eine Plattenbausiedlung. Keine Straße mehr, nur noch Sand. Am Ziel steht meine Vermieterin vor dem Haus im Bademantel. Ich bezahle den jungen Taxifahrer. Es sind vier Dollar anstatt zwanzig, die mich ein Abzocktaxi gekostet hätte. Armine führt mich ins Haus, steigt in einen schmalen Lift, in den nur wir beide plus mein Koffer passen, scheinbar ist er 100 Jahre alt. Normalerweise würde ich solch ein Gefährt niemals betreten, aber Armine steht bereits drin. Wackel. Ruckel. Neunter Stock. Sie schließt die Tür auf. Alles ist mit Teppich ausgelegt, wie bei den Russen, denke ich, es ist warm. Armine sagt: "Wir haben noch andere Gäste" und zeigt mir die Wohnung. Herrlich, wie bei mir in Leipzig, nur warm und mit Teppich. Das Bett ist uralt und ziemlich gemütlich. Das Bad ist grün gefliest, alles ist alt, und die Leitungen liegen frei. Alles erinnert mich an die Ukraine und einen Aufenthalt in St. Petersburg. Ich bin gespannt, wie mein Zuhause auf Zeit morgen in der Sonne aussehen wird. Ich mag es jetzt schon.
Der Aus-Blick am nächsten Morgen ist atemberaubend, obwohl direkt vor meiner Nase eine Baustelle nach oben wächst. Ich denke gleich so, typisch deutsch: „Warum tragen sie eigentlich keine Helme?“ Im nächsten Moment vergesse ich aber meine Sicherheitsbedenken sofort wieder ob der Schönheit meines Ausgucks. Ich wohne in einem typischen Sowjet-Plattenbau von 1984 in der Nähe der Metrostation am Garegin Nzhdehi Platz. Armine, meine Vermieterin, lebt in der Wohnung zusammen mit ihrer Frau Mama. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben sie die Wohnung vom Staat übernommen. Armine ist 51 Jahre alt, studierte Englisch für Übersetzung und Lehre und Politik. Sie schreibt Geschichten und übersetzt englische Texte ins Armenische, sie liest, betreibt Yoga, um ihr Inneres zu stärken. Armine raucht jeden Tag fast zwei Schachteln Menthol-Zigaretten, hat einen Freund und keine Kinder, dafür mehrere Neffen und Nichten. Sie trägt unheimlich gerne Bademantel und philosophiert über die Welt im Allgemeinen und manchmal auch im Speziellen. In den zwei Wochen meines Aufenthaltes wird sie immer bemüht sein, dass es mir gut geht, ich frische Bettwäsche habe und sowieso immer genug zu essen. Eines Tages klopft Armine sogar mit einem Geschenk für meinen kleinsten Neffen, von dem ich ihr erzählte, an meine Tür.
Ihre Mutter ist die 73-jährige Manja. Sie war vierzig Jahre lang als Biologielehrerin in einer Schule angestellt, sie spricht Armenisch und Russisch. Wir verständigen uns mit Händen und Füßen. Einmal, als ich ihr berichte, dass meine Mutter so ihre Schwierigkeiten mit mir hat, sagt sie ganz freundlich zu mir: „Ich liebe dich, so wie du bist.“ Welch ein Glück ich habe, zwei Wochen mit diesen beiden Frauen zusammenzuwohnen. Während meiner ersten Tage in Jerewan gibt es noch drei indische Gäste in der Wohnung. Sie reisen aber ab, bevor ich sie wirklich kennenlernen kann.
Bei einer Zigarette frage ich Armine, was sie glaubt, seien die Dinge, die sich in Armenien in den nächsten Jahren verändern müssen. Ihre Antwort: „Wir brauchen Gerichte, die demokratisch funktionieren, soziale Gerechtigkeit, Waffen, und wir müssen als Nation aufhören, in Feindschaften zu denken.“ Ziemlich kluge Worte. Nur das mit den Waffen betrübt mich. Eine Welt voller Waffen ist eine gefährliche und für mich nicht sehr lebensbejahende Welt. Aber da geht die Entwicklung wohl wieder hin. Waffen statt Brot statt Leben, Tod.
Ich habe verschiedene Kameras nach Armenien mitgenommen. Meine digitale Leica Q, eine alte analoge Canon für 35-mm-Schwarz-Weiß-und Farbfilm, eine Mittelformat Yashica, mehrere Agat-Plastik-Linsen im Halbformat und einen Polaroid-Apparat. Manchmal, wenn ich Armine begegne, fragt sie mich, ob ich wirklich mit diesen Spielzeugkameras fotografiere. Ja. Das tue ich. Spielzeuge sind es natürlich nicht, aber sie fallen auf, meine Fotoapparate. Passen also gut zu mir, denn ich hebe mich ja auch von anderen ab. Das armenische Volk hingegen ist in seinem Phänotyp einfach sehr homogen. Ich als dicke, blonde Frau mit „Spielzeugkameras“ falle also perse schon aus dem Rahmen. Außerdem bewege ich mich selbstbewusst und offen auch durch den öffentlichen Raum. Dies ist in einer noch sehr patriarchalen Struktur schon ausreichend provokant. An meinem ersten Abend meint auch gleich einer dieser Herren mir sein bestes Stück zeigen zu müssen. Kurz bin ich auch wirklich irritiert, gehe aber schließlich erhobenen Hauptes und laut schimpfend weiter.
Direkt über meinem Zimmer befindet sich ein Flachdach. Wieder fast genauso wie bei mir in Leipzig. Auch der Zugang ist abenteuerlich. Dafür ist der Blick über die Stadt famos. Im Sommer, kann ich mir vorstellen, sind die Abende und Nächte an diesem Ort ziemlich lang.
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